Protest gegen deutsche Grenzkontrollen »Das Virus lässt sich nicht von geschlossenen Grenzen aufhalten«

Im Kampf gegen die Coronavirus-Mutationen setzt Deutschland auf verschärfte Kontrollen an den Grenzen zu Tschechien und Tirol. Kritik kommt aus der EU, den betroffenen Ländern – und der deutschen Autoindustrie.
Die Bundespolizei kontrolliert an der tschechisch-deutschen Grenze Einreisende am Grenzübergang Schirnding im Landkreis Wunsiedel

Die Bundespolizei kontrolliert an der tschechisch-deutschen Grenze Einreisende am Grenzübergang Schirnding im Landkreis Wunsiedel

Foto: Matthias Balk / dpa

Die verschärften deutschen Einreiseregeln an den Grenzen zu Tschechien und zum österreichischen Bundesland Tirol sind in der Nacht zu Sonntag in Kraft getreten – und sorgen für Unmut in den betroffenen Nachbarstaaten und der Europäischen Union. EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides lehnte die Schließungen der EU-Binnengrenzen entschieden ab: »Die Furcht vor den Mutationen des Coronavirus ist verständlich, aber trotzdem gilt die Wahrheit, dass sich das Virus nicht von geschlossenen Grenzen aufhalten lässt«, sagte Kyriakides der »Augsburger Allgemeinen« .

Gegen die Mutanten helfe nur konsequentes Impfen sowie die Einhaltung der Hygieneregeln. »Ich halte es für falsch, dass wir wieder zu einem Europa mit geschlossenen Grenzen wie im März 2020 zurückkehren«, sagte die EU-Politikerin. Sie forderte die Mitgliedstaaten auf, stärker mit Sequenzierungen die Ausbreitung der Mutanten  zu untersuchen. Andernfalls stehe die EU dem Problem »blind« gegenüber.

Seit Sonntag gelten in Deutschland wegen der Ausbreitung neuer Virusvarianten schärfere Regeln für die Einreise aus bestimmten Ländern. Reisende wurden an stationären Grenzkontrollen überprüft. Hintergrund ist die Einstufung von Tschechien, der Slowakei und dem österreichischen Bundesland Tirol als »Virusvarianten-Gebiete« durch die Bundesregierung.

Ausnahmen gibt es für medizinisches Personal, für Lkw-Fahrer und landwirtschaftliche Saisonkräfte. Einreisende müssen einen negativen Corona-Test und eine Bescheinigung des Arbeitgebers vorweisen. Bis spätestens Dienstag soll in Bayern den Angaben nach über weitere Ausnahmen für Angehörige systemrelevanter Berufsgruppen entschieden werden.

»In der Praxis kaum erfüllbar«

Massive Kritik an den neuen Bestimmungen kommt aus der Slowakei: Der slowakische Außenminister Ivan Korcok intervenierte bei Deutschlands Bundesaußenminister Heiko Maas gegen Reisebeschränkungen für Lastwagenfahrer. Wie das Außenministerium in Bratislava am Samstag auf seiner Internetseite mitteilte, ging es dabei um die Vorschrift, an der Grenze einen höchstens 48 Stunden alten Corona-Test vorzuweisen, um nach Deutschland einreisen zu dürfen.

»Diese Maßnahme wird riesige Probleme verursachen und ist für unsere Lastwagenfahrer in der Praxis kaum erfüllbar«, erklärte Korcok seinem deutschen Amtskollegen nach Angaben seines Ministeriums. Die Slowakei habe deshalb eine diplomatische Note nach Berlin geschickt.

Wegen der neuen deutschen Einreiseregeln will Tirol  schon ab Sonntag den Lastwagenverkehr aus Italien vorab kontrollieren und drosseln, um einen extremen Rückstau und einen Verkehrskollaps im Inntal zu verhindern. »Wir lassen es nicht zu, dass Tirol der Parkplatz Europas wird. Aus diesem Grund wird in Abstimmung mit dem Bund eine Verordnung erlassen, die uns Kontrollen bereits am Brenner ermöglicht«, erklärten Landeshauptmann Günther Platter und Verkehrslandesrätin Ingrid Felipe.

Autoindustrie befürchtet Lieferprobleme und Werksschließungen

Die deutsche Autoindustrie wiederum befürchtet durch die Kontrollen erhebliche Lieferprobleme und bereits an diesem Montag Werksschließungen. Durch die zu erwartenden Probleme an den Grenzübergängen werde die Automobilproduktion ab Montagmittag größtenteils zum Erliegen kommen, teilte ein Sprecher des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) am Sonntag in Berlin mit.

»Die Werke in Ingolstadt, Regensburg, Dingolfing, Zwickau und Leipzig sind als Erste betroffen.« Die Autoindustrie fordert, bis zum Aufbau ausreichender Testkapazitäten an den Grenzen, mindestens aber für die nächsten vier Tage, auf eine ärztliche Testbestätigung zu verzichten und ersatzweise Selbstschnelltests für Fahrer zuzulassen. »Wir haben Verständnis für energische Maßnahmen, aber diese neue Testpflicht für Lkw-Fahrer ist so kurzfristig gar nicht umzusetzen«, sagte der VDA-Sprecher.

Söder: »Das bedeutet nicht das Ende Europas«

Bundesinnenminister Horst Seehofer verteidigte unterdessen den Schritt und bekräftigte, an den entsprechenden Übergängen in Bayern und Sachsen werde scharf kontrolliert. »Wer nicht zu einer der wenigen Ausnahmen gehört, kann nicht einreisen«, sagte der CSU-Politiker der »Bild am Sonntag«. Auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) verteidigte die Grenzkontrollen. »Uns bleibt nichts anderes übrig«, sagte er am Samstag. Der Kampf gegen die Pandemie mache an einer Grenze nicht halt.

Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat die Kritik an den verschärften Grenzkontrollen zurückgewiesen. Das bedeute nicht das Ende des freien Europas, wie manche sagten, betonte Söder bei einem Besuch am Sonntag an der Kontrollstelle in Schirnding in Oberfranken. »Was für ein Unsinn.« Er sei überzeugt, dass es Europa stärke, wenn es jetzt gelinge, eine neue Welle zu verhindern.

Unterdessen sind die umstrittenen Grenzkontrollen ruhig gestartet: Die verschärften deutschen Einreiseregeln an der bayerischen Grenze zu Tschechien haben in der Nacht zu Sonntag weder für Stau noch für lange Wartezeiten gesorgt. »Die Lage ist momentan sehr ruhig«, sagte ein Sprecher der Grenzpolizei Passau am Sonntagmorgen. Es sei schließlich Sonntagsverkehr. »An einem Wochentag, wenn Pendler versuchen einzureisen, wird die Lage sicherlich anders aussehen«, hieß es weiter. Dann seien auch wieder Lastwagen unterwegs.

Seit der Nacht zu Sonntag kontrolliert die Bundespolizei auch am größten deutschen Verkehrsflughafen in Frankfurt Flugreisende aus Österreich und Tschechien. Ein Sprecher der Bundespolizei sagte, die Beamten überprüften, ob es sich bei den über Frankfurt einreisenden Menschen um deutsche Staatsangehörige, EU-Bürger oder Angehörige aus Drittstaaten mit einem gültigen Aufenthaltstitel in Deutschland handelt. Außerdem werde geprüft, ob die Reisenden einen negativen Corona-Test und eine digitale Einreiseanmeldung vorweisen können.

kik/dpa/AFP/Reuters
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