Ende der Impfpriorisierung »Eine große Ungerechtigkeit«

In drei Wochen soll die Impfreihenfolge aufgehoben werden: Experten und Betroffene befürchten, dass chronisch Kranke und Ältere das Nachsehen haben. Denn viele von ihnen sind noch immer nicht geimpft.
Menschen stehen in Köln für eine Impfung an

Menschen stehen in Köln für eine Impfung an

Foto: Oliver Berg / dpa

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Mit der Gerechtigkeit und dem Impfen ist das so eine Sache. Eigentlich wollte man die besonders Gefährdeten in Deutschland vordringlich schützen. Dazu wurde eine Reihenfolge festgelegt, die der deutsche Ethikrat für gerecht hielt. Die Menschen mit den höchsten Infektionsrisiken standen darin ganz oben.

Doch dann stellten die Deutschen fest, dass es mit dieser Reihenfolge doch ziemlich lang dauere, bis man in den Urlaub fahren, Freunde treffen oder normal arbeiten könne. Ein paar Bundesländer entschieden in der Folge, es sei gerecht, wenn alle gleichermaßen berechtigt seien.

In manchen Teilen der Bundesrepublik kann sich deshalb nun jeder und jede impfen lassen – egal wie alt oder krank er oder sie ist. In drei Wochen soll die Priorisierung bundesweit fallen. Nachsehen haben dann all die Menschen mit Vorerkrankungen, die gerade in Deutschland immer noch vergeblich auf einen Termin warten.

Eine von ihnen steht an einem Dienstag im Mai in einer Fußgängerzone in Sachsen-Anhalt und ist ziemlich wütend. Eben ist Angelika Reichardt an einem Wahlstand der CDU in der Stadt Gardelegen vorbeigegangen und hat den Flyer der Landtagskandidatin ausgeschlagen. »Ich weiß Bescheid!«, hat sie gerufen und damit die CDU im Allgemeinen gemeint, die sie eigentlich seit Jahren wählt, und den Bundesgesundheitsminister im Besonderen. Nun kommt sie noch einmal zurück.

Es tue ihr leid, dass sie so unfreundlich gewesen sei, erklärt die Bürokauffrau, aber sie sei so wütend auf Jens Spahn: »Ich glaube dem Bundesgesundheitsminister kein Wort mehr.«

Spahn hat gemeinsam mit seinen Länderkolleginnen und -kollegen am Montag beschlossen, die Priorisierung bei der Impfreihenfolge ab dem 7. Juni aufzuheben. Reichardt sah ihn wenig später seine Entscheidung im Fernsehen erklären. In der Nacht darauf, erzählt sie, habe sie kaum geschlafen. Wenn sich bald alle Menschen impfen lassen dürfen, was ist dann mit den besonders Kranken? Was ist dann mit ihr?

Die 59-Jährige leidet unter COPD. Mit dieser chronischen Lungenerkrankung gehört sie zu den Menschen, die mit hoher Priorität geimpft werden sollen. Doch Reichardt bekommt seit Wochen keinen Termin. Fast jeden Tag wählt sie mehrmals die Nummer der Impfzentren und Ärzte in ihrer Nähe. Über 20-mal hat sie bei der Impfhotline nachgefragt.

Immer wieder meldet sie sich auch bei ihrem Lungenarzt und ihrer Frauenärztin. Doch die Leitung, sagt Reichardt, sei täglich besetzt. Ihre Hausärztin habe sie auch immer wieder vertröstet: Sie habe nicht genügend Impfstoff bekommen. Nun sei sie erst mal für zwei Wochen im Urlaub.

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Fälle wie den von Angelika Reichardt gibt es nicht nur in Sachsen-Anhalt, es gibt sie im ganzen Land.

  • Da ist das Rentnerehepaar (er 69, sie 75 Jahre alt) in Baden-Württemberg, das seit acht Wochen erfolglos die Impfhotline abtelefoniert und beim Hausarzt auf Listenplatz 400 steht, während ihre Tochter, eine Lehrerin in Hamburg, bereits geimpft ist.

  • Oder die 59-Jährige, die ihre Eltern betreut und damit eigentlich als Kontaktperson auch längst eine Impfung hätte bekommen sollen – aber nicht weiß, wie sie das organisieren soll neben der Arbeit.

  • Da ist die Asthmatikerin in Hamburg, die seit Wochen vom Hausarzt und in der Impfhotline vertröstet wird.

Die Gesundheitsministerin von Sachsen-Anhalt, Petra Grimm-Benne, kennt das Problem nur zu gut. Sie erhält zahlreiche Anrufe und Briefe von Menschen, die eigentlich längst geimpft sein sollten. Doch ihr Land, erklärt die SPD-Politikerin dann immer wieder, erhalte eben nur 60.000 Impfdosen pro Woche.

Dazu komme, dass es gerade im ländlichen Raum nur wenige Hausärzte gebe, die die Vakzinen spritzen könnten – und dass in dem Bundesland besonders viele ältere Menschen leben. »Viele in den Gruppen eins und zwei sind noch gar nicht durchgeimpft«, sagt Grimm-Benne. Sie habe Spahn deshalb bei der Konferenz der Gesundheitsminister gesagt, dass die Aufhebung der Priorisierung für sie zu früh komme.

Doch die Bundesländer standen auch unter Druck, meint Grimm-Benne. »Nachdem Minister Spahn das Ende der Priorisierung im Juni bereits vorher angekündigt hatte, stand man als Land, das sich dagegen wehrt, so da, als würde man den Menschen nichts Gutes wollen«. Deshalb habe sie dem Plan schließlich zugestimmt.

Dass Angelika Reichardt, die verärgerte Bürgerin am CDU-Wahlstand, bis zum 7. Juni einen Termin bekomme, könne sie nicht versprechen. Sie suche deshalb gerade nach Wegen, wie Menschen mit Vorerkrankungen auch nach dem Ende der Priorisierung noch leichter an Impftermine kommen sollen. Etwa durch Impfangebote für bestimmte Menschen mit hohem Krankheitsrisiko an bestimmten Tagen.

Keine verlässlichen Daten über Impffortschritt

Wie viele von diesen Fällen noch im Land existieren, das wird allerdings nicht erhoben. Der Grund dafür ist der bürokratische Aufwand und der Datenschutz. Gesundheitsexperten sehen die Entscheidung des Bundesgesundheitsministers deshalb kritisch. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz wies zuletzt darauf hin, dass es keine verlässlichen Daten darüber gebe, wie weit der Impffortschritt bei den Menschen in gefährdeten Berufsgruppen und mit Vorerkrankungen sei. Der Vorstand der Stiftung, Eugen Brysch, mahnte deshalb, die Priorisierung noch nicht aufzugeben: »Das Ende der Priorisierung darf kein Datum bestimmen, sondern allein die Impfquote der Risikogruppen.«

Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen sieht das ähnlich. »Es ist viel zu früh, die Priorisierung zu einem Zeitpunkt über den Haufen zu werfen, zu dem noch rund 50 Millionen Menschen nicht geimpft sind. Diese Entscheidung mag politisch populär sein, epidemiologisch gibt es dafür aber noch keine Grundlage«, erklärt der Bundestagsabgeordnete.

»Ich warne davor, ohne belastbare Daten, die zeigen, dass die deutliche Mehrheit der Prioritätengruppen geimpft ist, die Steuerung faktisch aus der Hand zu geben«, sagt Dahmen. Nicht jeder und jede habe die guten Kontakte zu Ärzten oder wisse, wie man einfach an einen Termin komme. »Da entsteht gerade eine große Ungerechtigkeit. Und die Verlierer sind die Schwächsten.«

Die also, die man eigentlich besonders schützen wollte.

Der gesundheitspolitische Sprecher der Linkenfraktion im Bundestag, Achim Kessler, bemängelt, es fehlten noch immer genug Impfdosen, um allen Menschen in Deutschland die ihnen zustehende Impfung ermöglichen zu können. Er meint, es hätte von Anfang an eine Regelung geben müssen, nach der Hausärztinnen und Hausärzte in Einzelfällen flexibel entscheiden können, wen sie impfen. »Jetzt aber eine komplette Aufhebung der Prioritäten durchsetzen zu wollen, geht auf Kosten der Menschen der zweiten und dritten Gruppe, die immer noch auf ihren Impftermin warten«, so Kessler.

Besonders wichtig sei es jetzt auch, sozial schwache Menschen gezielt anzusprechen und zu impfen, »da sie nachgewiesenermaßen von höheren Ansteckungsquoten und Todesraten betroffen sind.«

Auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach mahnt deshalb eindringlich, in den nächsten Wochen unbedingt die Risikogruppen vorzuziehen. Ab dem 7. Juni sind nach seiner Ansicht die Voraussetzungen für die Aufhebung der Impfpriorisierung aber wahrscheinlich gegeben.

Angelika Reichardt sagt, sie habe sich die ganze Pandemie über an die Regeln gehalten. Sie habe ihre Kinder und Enkel nicht gesehen, die Urlaube abgesagt, sei zu Hause geblieben. Wie alle anderen auch.

Sie habe sich nicht vordrängeln wollen vor diejenigen, die älter und kränker seien als sie. Doch wegen ihrer Erkrankung sei sie auch davon ausgegangen, dass dieser Zustand bald ein Ende haben würde. Dass ihre Angst, schwer an Covid-19 zu erkranken, aufhören könne.

Gerade sieht es noch nicht danach aus.

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