Streit über Impfstoffexporte Von der Leyens Drohkulisse wackelt

Die Drohungen der EU-Kommission zum Verbot des Impfstoffexports nach Großbritannien werden schärfer – doch viele Mitgliedsländer fürchten die Eskalation mit London. Eine Entscheidung soll der EU-Gipfel diese Woche bringen.
Von Markus Becker, Brüssel
Britischer Premier Johnson, EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen (Foto vom 12. Dezember)

Britischer Premier Johnson, EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen (Foto vom 12. Dezember)

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Xinhua / imago images

Es war eine kaum verhüllte Kampfansage an die britische Regierung: Man werde »alle möglichen Instrumente nutzen«, um Gerechtigkeit im Impfstoffhandel herzustellen, sagte Ursula von der Leyen vergangene Woche. Mehr als 41 Millionen Dosen habe die EU in alle Welt exportiert, davon allein zehn Millionen an Großbritannien. Zurückgekommen sie von der Insel bislang: nichts. Das, so die EU-Kommissionspräsidentin, werde man nicht länger hinnehmen. Es gelte »Reziprozität« herzustellen, notfalls mit Exportverboten.

Das Problem: Dazu müsste die EU-Kommission womöglich Maßnahmen ergreifen, bei denen viele Mitgliedsländer nicht mitmachen wollen.

In dem Streit spielt AstraZeneca eine unrühmliche Hauptrolle. Der britisch-schwedische Impfstoffhersteller hat nach Angaben der Kommission bisher nur etwa 30 der 120 Millionen Dosen geliefert, die er der EU für das erste Quartal vertraglich zugesichert hatte. Im zweiten Quartal sollen es 70 statt 180 Millionen Dosen sein, zumindest nach aktueller Planung. »Aber das glaubt auch keiner«, sagt ein Kommissionsmitarbeiter. »Wenn AstraZeneca Zahlen nennt, holt niemand mehr den Kugelschreiber heraus. Die werden nur noch mit Bleistift notiert.«

Der Grund für die verminderte Liefermenge: Der Vertrag zwischen AstraZeneca und der britischen Regierung sieht angeblich vor, dass Großbritannien das erste Anrecht auf die Impfstoffe hat. Die EU hält dem entgegen, AstraZeneca habe sich auch ihr gegenüber zur Lieferung verpflichtet – aus vier Werken, von denen zwei in Großbritannien liegen.

Die britische Regierung will aber offenbar nicht nur nichts an die EU exportieren – sondern sogar noch Millionen weitere Impfstoffdosen von dort importieren.

Die britische Regierung ist alarmiert

In den Fokus rückt jetzt das Werk des AstraZeneca-Auftragnehmers Halix im niederländischen Leiden. Es hat offiziell noch keine Zulassung von der EU-Arzneimittelbehörde EMA. Dennoch, so heißt es aus EU-Kreisen, werde dort schon länger der AstraZeneca-Impfstoff hergestellt, mittlerweile stapelten sich im Lager Millionen Dosen. Auch eine Sprecherin der britischen Regierung räumt ein, dass es um »substanzielle Mengen« gehe.

Sie dürften nun ins Visier der Kommission geraten – zusammen mit dem Impfstoff, der künftig in Leiden produziert werden soll. Eine Entscheidung über ein Exportverbot soll nun beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag fallen, geplant ist eine Videokonferenz.

In London ist man offenbar alarmiert. Der britische Premierminister Boris Johnson hat am Wochenende bereits mit Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron telefoniert, wie die Regierungssprecherin bestätigt. Zuvor habe er bereits mit dem niederländischen Premier Mark Rutte und dem belgischen Ministerpräsidenten Alexander De Croo gesprochen.

»Es muss gerecht zugehen«

Das dürfte kein Zufall sein, denn die Niederlande und Belgien gelten als relativ konziliant gegenüber Großbritannien. Beide haben zuletzt vor einer Eskalation im Impfstoffstreit mit den Briten abgeraten. Sie fürchten vor allem um Vorprodukte, die für die Herstellung von Impfstoffen in der EU wichtig sind und von denen einige aus Großbritannien kommen. Auch in Berlin gibt es deshalb Warnungen vor Exportverboten .

Frankreich und Italien verfolgen eine härtere Linie. Italien hat als erstes Land bereits Konsequenzen gezogen und kürzlich die Ausfuhr von 250.000 AstraZeneca-Dosen nach Australien gestoppt. Auch die französische Regierung ist anscheinend zu solchen Schritten bereit. »Wenn man voneinander abhängig ist, muss es auch gerecht zugehen«, sagt etwa ein französischer Diplomat. Für diese Sicht der Dinge gebe es eine »überwältigende Mehrheit« unter den Mitgliedsländern.

Kommissionschefin von der Leyen aber will Exportverbote künftig nicht mehr nur mit der Vertragstreue einzelner Hersteller begründen müssen, sondern ein neues Kriterium einführen: die Gerechtigkeit. Länder, die selbst keinen Impfstoff aus dem Land lassen, sollen künftig auch keinen mehr aus der EU bekommen.

Denn um auch nur annähernd ein Gleichgewicht im Impfstoffaustausch zwischen der EU und Großbritannien herzustellen, müssten eventuell auch die Ausfuhren anderer Hersteller ausgebremst werden, allen voran Biontech/Pfizer.

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Dagegen aber gibt es erheblichen Widerstand unter den Mitgliedsländern. Deren Botschafter trafen sich vergangene Woche kurz nach der Pressekonferenz von der Leyens – und waren nicht nur überrascht über die Schärfe der Drohungen der Kommissionspräsidentin, wie mehrere Teilnehmer dem SPIEGEL bestätigten. Eine große Mehrheit, darunter Deutschland, sei strikt dagegen gewesen, Exporte des Biontech/Pfizer-Impfstoffs zu stoppen. »Man kann keine Unternehmen bestrafen, die ihre Verpflichtungen erfüllen«, sagte ein EU-Diplomat.

Chancen eines Exportstopps steigen mit den Infektionszahlen

Dabei könnte es von der Leyen Ärger einbringen, wenn sie erneut gegen AstraZeneca vorgeht. Sollte die niederländische Regierung die Ausfuhr der Impfstoffe aus dem Halix-Lager genehmigen, könnte die Kommission sie zwar überstimmen. Ob sie das aber täte, erscheint zumindest fraglich. Auch deshalb will von der Leyen die Staats- und Regierungschefs beim Gipfel über die Exportverbote diskutieren lassen. Ist eine Mehrheit dafür, müsste wohl auch der Niederländer Rutte mitziehen.

Die Erfolgschancen steigen derzeit mit den Infektionszahlen. Die EU-Staats- und Regierungschefs stehen unter enormem Druck, einige von ihnen müssen in diesen Tagen erneut Verschärfungen der Anti-Corona-Maßnahmen verkünden. Den Sommerurlaub im Ausland wird für die Kontinentaleuropäer unwahrscheinlicher. Ganz anders die Briten: Deren Regierung will bis Ende Juli jedem ein Impfangebot machen.

Feiernde Briten am Strand, frustrierte EU-Bewohner zu Hause – in den EU-Hauptstädten sind solche Bilder eine Horrorvorstellung. Sollte die Pandemielage in drei Wochen noch düsterer aussehen, sagt ein EU-Diplomat, wäre vieles möglich, vielleicht auch Exportverbote für den Biontech/Pfizer-Impfstoff.

Dies würde die britische Impfkampagne vermutlich um Wochen zurückwerfen, womöglich müssten auch die Briten auf den Strandurlaub verzichten. Der politische Schaden für Johnson wäre immens. Immerhin: Die EU hätte dann Reziprozität hergestellt.

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