SPD-Vize Midyatli fordert Kinderbonus »Durchhalteparolen helfen Familien nicht«

Schulen dicht, Kitas im Notbetrieb – Familien würden in der Pandemie viel leisten, betont SPD-Bundesvize Serpil Midyatli. Sie dringt auf einen zusätzlichen Kinderbonus und ein Aufholprogramm für Schüler.
Ein Interview von Lydia Rosenfelder und Ansgar Siemens
Vater und Sohn mit Mund-Nasen-Schutz

Vater und Sohn mit Mund-Nasen-Schutz

Foto: Mareen Fischinger / imago images / Westend61

SPIEGEL: Frau Midyatli, Sie haben zwei Schulkinder. Können Sie sich als Hilfslehrerin durchsetzen?

Serpil Midyatli: Meine Söhne sind elf und 17 Jahre alt, sie schaffen viel alleine. Aber ihre Toleranzgrenze nimmt von Tag zu Tag ab, weil ja auch alle Freizeitaktivitäten fehlen, und das schon seit Monaten. Aber grundsätzlich sind wir in einer komfortableren Situation als viele andere. Wir haben vor anderthalb Jahren die Entscheidung getroffen, dass mein Mann zu Hause ist. Es hat für uns damals schon nicht funktioniert, Kinder, Beruf, Partei und Ehrenamt unter einen Hut zu bekommen.

SPIEGEL: Was raten Sie Familien, in denen beide Eltern arbeiten?

Midyatli: Eltern sollten sich das Angebot der Kinderkrankentage genau ansehen. Es gibt dazu ein Musterformular auf der Seite des Bundesfamilienministeriums. Ganz wichtig ist auch die Notbetreuung in Kitas und Schulen. Eltern dürfen sich kein schlechtes Gewissen machen lassen. Familien haben in dieser Pandemie wahnsinnig viel geleistet und wurden dabei oft nachrangig behandelt. Durchhalteparolen helfen Familien nicht.

SPIEGEL: Nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 machten Restaurants, Fitnessstudios und Museen auf, aber die Kinder mussten noch lange zu Hause bleiben. Befürchten Sie für dieses Jahr dasselbe?

Midyatli: Als im letzten Jahr die Bundesliga wieder losging, habe ich gesagt: Jetzt macht endlich auch die Spielplätze wieder auf! Ich gehe aber davon aus, dass die Versprechen eingehalten werden: Wenn es zu Öffnungen ab dem 15. Februar kommt, sind Kitas und Schulen zuerst dran. Ich unterstütze ausdrücklich Manuela Schwesig, die bei den Ministerpräsidentenkonferenzen die Fahne immer wieder für die Kinder und Familien hochhält. Kitas und Schulen sind kein Randthema.

SPIEGEL: Können Schüler die Versäumnisse aus diesem Schuljahr überhaupt wieder aufholen? Wie sollte der Staat damit umgehen?

Midyatli: Es kann nicht sein, dass Schüler auf Jahre hinweg Lücken mit sich herumschleppen. Deswegen brauchen wir ein Neustartprogramm für die Schulkinder. Die Kultusministerkonferenz muss Lösungen finden, damit nicht reihenweise Lebensläufe zerstört werden.

SPIEGEL: Was schwebt Ihnen vor?

Midyatli: Einige Bundesländer hatten letztes Jahr Erfolg mit zusätzlichen Angeboten im sogenannten Lernsommer. In Schleswig-Holstein aber wurden Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte kaum beteiligt. Das erzeugt Unmut. Wir brauchen dringend Bildungsgipfel im Land, um Konzepte zu entwickeln. Aber es geht nicht nur um Schule. Jugendarbeit findet nicht statt. Die aufsuchende Sozialarbeit findet nicht statt. Dabei ist die gerade in benachteiligten Stadtteilen wichtig, damit die Menschen überhaupt an die Angebote kommen.

SPIEGEL: Besonders in sozial schwachen Familien ist Bildung die wichtigste Aufstiegsmöglichkeit. Droht hier eine Generation abgehängt zu werden?

Midyatli: Das ist definitiv so. Hausaufgabenbetreuung fällt häufig weg, genau wie Sportaktivitäten. Ich bin in einem Kieler Brennpunktstadtteil aufgewachsen und in den nächsten gezogen. Auch meine Biografie ist stark an Institutionen gebunden. All das, was sich in Schule, Jugendtreffs abspielt, hat dazu beigetragen, dass sich meine Lebensperspektive deutlich verbessert hat.

»Wir müssen die Kinderkrankentage über die Pandemie hinaus deutlich erhöhen«

SPIEGEL: Was plant die SPD, um den Schwächsten der Gesellschaft, den Kindern, in der Krise zu helfen?

Midyatli: Wenn die Eltern wegen der Lockdownphase die Kinderkrankentage aufbrauchen, dann muss man sich darüber verständigen: Was passiert bis zum Jahresende, wenn das Kind tatsächlich krank wird? Wir müssen die Kinderkrankentage über die Pandemie hinaus deutlich erhöhen. Die waren schon immer viel zu knapp.

SPIEGEL: Das Kinderkrankengeld ist doch geschlechterpolitisch ein Rückschritt. Weil bei Männern die Gehaltseinbußen oft höher sind, bleibt eher die Frau zu Hause.

Midyatli: Einspruch. Kinderkrankentage sind ein gutes Beispiel dafür, dass gerade Väter mit einem höheren Gehalt es in Anspruch nehmen sollten. Es gibt 90 Prozent vom Lohn, bis zu 112,88 Euro pro Tag. Das ist auch für viele Männer ein attraktives Angebot.

SPIEGEL: Ihr Genosse, Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, verspricht Empfängern von Grundsicherung einen Corona-Zuschuss. Reicht das?

Midyatli: Der Corona-Zuschuss wird Familien zugutekommen, die wenig Einkommen haben und deshalb besonders finanziell belastet sind. Aber natürlich trifft die Krise auch Millionen Menschen mit einem mittleren Einkommen. Noch immer ist zum Beispiel Kurzarbeit weitverbreitet. Im vorigen Jahr gab es vom Staat einmalig 300 Euro pro Kind. Ich bin dafür, dass wir auch 2021 einen Kinderbonus auszahlen. Es ist absehbar, dass wir weiterhin starke Einschränkungen haben werden – auch wenn wir von Mitte Februar an schrittweise aus dem Lockdown kommen sollten.

SPIEGEL: Geringverdiener waren einst die Kernklientel der SPD. Kümmern Sie sich in der Coronakrise genug um diese Menschen?

Midyatli: Klares Ja. Das stärkste Instrument ist das Kurzarbeitergeld, es ist verlängert worden und gibt den Menschen Sicherheit. Arbeitsplätze bleiben erhalten. Mir ist wichtig, dass wir langfristig eine vernünftige Kindergrundsicherung bekommen. Unsere genauen Vorschläge kommen mit dem Bundestagswahlprogramm. Kinder zu haben, ist in Deutschland ein Armutsrisiko. Das wird sich mit unserem Konzept ändern.

SPIEGEL: Hat die Politik beim Thema Kinder aus dem ersten Lockdown etwas gelernt?

Midyatli: Das ist zumindest meine Erfahrung, weil die Angebote erweitert wurden. So wurde die Notbetreuung auch für sozial schwächere Familien geöffnet, und für Schüler, die zu Hause nicht lernen können oder kein WLAN haben, hat man Schulen und Bibliotheken geöffnet. Die Kinder kommen aber nicht automatisch, die muss man persönlich kontaktieren.

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