
Corona Nach fest kommt ab


Schaufenster eines Puppentheaters in Erfurt
Foto: Martin Schutt / DPA-ZentralbildIm Kanzleramt, so erzählt man sich, kursiert ein Rechenspiel: Die Zahl der Corona-Neuinfektionen könnte auf absolut null gedrückt werden, wenn wir alle 14 Tage (allein) ins Bett gingen und die Decke über den Kopf zögen: Deutschland, ein Winterschlaf, der gesamtgesellschaftliche reset. Das ist selbstredend kein Plan der Bundesregierung, aber es ist ein mindset. In diesem set agiert auch die neue Bewegung #zerocovid, die ein europaweit vollständiges Herunterfahren der Wirtschaft fordert und es als »Null-Lösung« auf die Seite eins der »taz« geschafft hat.
Ich will niemandem zu nahe treten oder ihm die Angst vor Corona absprechen, aber ich werde den Verdacht nicht los, dass bei #zerocovid ein paar Rechnungen mitkommen, welche die einschlägigen Milieus endlich beglichen sehen möchten: die mit Kapitalismus und Konsum etwa oder mit den Reichen an und für sich. Die Kosten für das Schließen von »Fabriken, Büros, Baustellen und Schulen« sollen nämlich über eine Abgabe auf hohe Einkommen und Vermögen hereingeholt werden. Was Aktivisten halt so einfällt.

Daniel Reinhardt / DPA
Nikolaus Blome, Jahrgang 1963, war bis Oktober 2019 stellvertretender Chefredakteur und Politikchef der »Bild«-Zeitung. Von 2013 bis 2015 leitete er als Mitglied der Chefredaktion das SPIEGEL-Hauptstadtbüro, zuvor war er schon einmal stellvertretender »Bild«-Chefredakteur. Seit August 2020 leitet er das Politikressort bei RTL und n-tv. Dort macht er auch einen wöchentlichen Podcast zusammen mit Jakob Augstein .
Schlechte Nachrichten also zu Beginn dieser Woche: Corona wird zusehends zum Aktionsfeld der 150-Prozentigen, der pragmatische Konservative betrachtet es mit Argwohn. Morgen im Kanzleramt sucht Deutschland den Superlockdown, und mit Blick auf die Runde der Ministerpräsidenten bei der Bundeskanzlerin möchte ich an jene Worte erinnern, die am Mahnmal des unbekannten Hobbyklempners prangen: »Nach fest kommt ab!«
Zum Beispiel wäre es ja nicht abwegig, erst einmal jenen »harten Lockdown« durchzusetzen, den wir seit mehreren Wochen schon haben, beschlossen zwar, aber nur löchrig vollzogen. So überschreitet Winfried Kretschmann, Landesvater BaWü, die Grenze zur Dreistigkeit, wenn er bereits jetzt nach einem härteren Lockdown ruft, obwohl er die beschlossene 15-km-Radius-Beschränkung in besonders betroffenen Regionen gar nicht anwenden lässt. Dasselbe gilt für den Umgang mit Schulen und Kitas. Auch hier gelten die Beschlüsse grundsätzlich für alle 16 Länder – und wurden von eben diesen 16 Ländern an 16 verschiedenen Stellen wieder aufgeribbelt.
Man könnte zunächst auch einige Ungereimtheiten begradigen, die umso mehr an der Disziplin nagen, je härter die Eingriffe in den Alltag ausfallen. Nur ein Beispiel: Nach den geltenden Regeln zur Kontaktbeschränkung darf ein (erwachsenes) Kind seine Eltern daheim besuchen, nicht aber die Eltern das (erwachsene) Kind in dessen Zuhause. Kann mir irgendjemand erklären, warum?
Stand Sonntag sind in Deutschland mehr als eine Million Menschen geimpft, es könnte schneller gehen, andere Staaten sind weiter. Doch warum in die Ferne schweifen, aus Nordosten kommt das Licht. Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten sollten ergo beschließen, dass ab sofort alle Bundesländer so verfahren wie Mecklenburg-Vorpommern, das fast doppelt so viel impft wie der Bundesschnitt und damit einen europäischen Spitzenplatz hat. Außerdem sollten sich Angela Merkel, das gesamte Kabinett und der Bundespräsident vor laufender Kamera impfen lassen, um ein Zeichen der Zuversicht zu setzen. In einschlägigen Internetforen werden bereits Fragen herumgereicht, warum sie das nicht tut. Weil sie ein Echsenmensch ist? Von Bill Gates schon vor 15 Jahren gechipt wurde? Selbst diese Geister sollte man nicht allein lassen.
Und schließlich müssen wir uns vorsichtig der Frage nähern, ob die Inzidenzzahl von 50 das allein kursbestimmende Ziel bleiben soll oder wir auch mit höheren Infektionszahlen leben könnten, wenn sie sich nicht mehr in überlasteten Intensivstationen und hohen Sterbezahlen niederschlagen. Die Zahl von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen, das ist schließlich keine medizinisch begründete Zahl, sondern eine, die behördliche Belastungsgrenzen markiert, peinlich genug. Wenn aber ein besserer Außenschutz der Altenheime sowie die fortschreitende Impfung der Bewohner gerade jene Gruppe gegen einen schweren Verlauf der Infektion absichert, die mit Abstand die meisten Todesopfer zu beklagen hat – dann büßt die Inzidenzzahl 50 ihre existenzielle Bedeutung ein. Dann wird die Kettenreaktion unterbrochen, die bis dato unausweichlich von der eintretenden Überforderung der Gesundheitsbehörden über die Altenheime auf die Intensivstationen und Friedhöfe eskaliert. Wer geimpft ist, kann sich vielleicht noch anstecken. Aber nicht mehr an Corona sterben.
Das scheint mir einer frühen Debatte und Abwägung wert, nicht zuletzt, damit die Politik bei der Abkehr von der 50 nicht wirkt wie der Fuchs in der Fabel, dem die Trauben zu sauer sind. Ich halte diese Abkehr von der 50 für wahrscheinlich, weil ein Superlockdown, der auch ohne die Hilfe frühlingshafter Temperaturen das Infektionsgeschehen unter die Inzidenz von 50 drückt, mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kosten erkauft werden müsste, die weit über denen des ersten Lockdowns lägen. Dabei sehen mehrere Kennzahlen der Krise besser aus als vor ein oder zwei Wochen.
Die Bundeskanzlerin will trotzdem härtere Beschränkungen, weil sie die ausbreitungsstarke, britische Mutation des Virus fürchtet. Und ja, mit früheren Warnungen hat sie mehrfach recht behalten. Aber das sollte sie nicht stur machen, sondern souverän und offen für einen neuen Lösungsmix. Nur für eine, die nichts als einen Hammer hat, sehen alle Probleme aus wie Nägel.