
Corona-Maßnahmen Wir sind, was wir uns erlauben


Blick in den Nebel an der Binnenalster in Hamburg (Archivbild)
Foto: dpaDie Welt schnurrt zusammen auf die Größe der eigenen Heimstatt, die Wände rücken näher, wir sitzen und warten auf die neuesten weisen Ratschlüsse der Ministerpräsidenten und der Kanzlerin. Ist ja auch spannend, wer wird sich diesmal durchsetzen, Merkel oder Mecklenburg-Vorpommern? Ist aber gleichzeitig gar nicht spannend, irgendwer hat die Vorlage längst durchgesteckt, und auch ohne sie zu lesen, wissen wir doch längst, was darin steht: die Zahlen zu hoch, die Gesundheit gefährdet, bleiben Sie bitte weiterhin daheim und unter sich im engsten Kreis.
Das heilige Fest der deutschen Familie
Interessant aber wieder die Details. Durften sich etwa bislang zehn Personen (plus Kinder) aus zwei verschiedenen Hausständen treffen, sollen es ab 1. Dezember nur noch insgesamt fünf sein, ihre Kinder nicht mitgerechnet. Diesen Unterschied werden wohl nur sich gegenseitig besuchen wollende Mehrgenerationen-Großfamilien bemerken, für alle anderen, also die allermeisten, ändert sich nichts. Klingt aber schön scharf. Dafür wird über die Feiertage kräftig gelockert: Bis zu zehn Menschen aus beliebig vielen Haushalten plus beliebig viele Kinder bis 14 Jahre können vom 23. Dezember bis zum 1. Januar beisammen und aufeinander hocken, so erlaubt es die Vorlage der Länder. Denn Weihnachten ist das heilige Fest der deutschen Familie, da muss der Infektionsschutz ein paar Tage zurückstehen.
Und Silvester? Mal sehen, ob es bei den in der Vorlage noch freien Treffen bis Anfang des Jahres bleibt oder diese doch zurückreguliert werden bis Mitternacht des zweiten Weihnachtsfeiertags. Die Debatte darüber ist noch nicht beendet, so scheint es: »Weihnachten wollen die Menschen zusammen mit ihrer Familie feiern, das ist nicht nur für die älteren Menschen sehr wichtig. Aber Silvester müssen wir nun wirklich nicht wieder alles aufmachen«, sagt etwa Ralph Brinkhaus, Fraktionschef der Union im Deutschen Bundestag: »Grundsätzlich gilt: Alles, was Silvester nicht stattfindet, ist infektionstechnisch gut.«
Tatsächlich geht es bei der Frage, was erlaubt ist und was verboten, was notwendig und was verzichtbar in der Pandemie, offenbar nicht nur um die Infektionsgefahr. Wie wäre etwa »infektionstechnisch« zu erklären, dass volle Klassenzimmer mit magischem Lüften von Viren befreit werden können, Restaurants aber selbst mit weit auseinandergestellten Tischen und aufwendig eingebauten Lüftungsanlagen unvertretbare Risiken darstellen? Es ist nicht zu erklären, jedenfalls nicht mit dem faktischen Infektionsrisiko.
Was nicht dazugehört, möge verdampfen
In der Pandemie setzt der Staat politische Prioritäten, und das ist, wenn es den Weiterbetrieb der Wirtschaft und des Bildungssystems betrifft, durchaus nachvollziehbar. Bemerkenswert ist jedoch, wie und wo Prioritäten gesetzt werden, wie die öffentliche Debatte verläuft, wenn Bereiche des öffentlichen Lebens betroffen sind, die nicht als selbstverständlich systemrelevant gelten. In der Pandemie verständigen sich die Ministerpräsidenten und das Kanzleramt, die Massen- und die sogenannten sozialen Medien darüber, was die Gesellschaft ausmacht, auf was sie verzichten kann und soll – und auf was auf keinen Fall. Die deutsche Suppe schmurgelt auf ihre Essenz zusammen, und was nicht dazugehört, möge verdampfen. Durch diese pandemischen Grenzziehungen ergibt sich ein klares Bild deutscher Befindlichkeiten, oder genauer: dessen, was unsere Spitzenentscheider dafür halten, nachdem sie tief in Volkes Seele und auf die größten Schlagzeilen geschaut haben.
Geht es nach ihnen, und das tut es, wollen der und die Deutsche Weihnachten im Kreis ihrer Großfamilie verbringen, komme, was wolle – und sei es eine neue Infektionswelle. Die Deutschen wollen Fußball schauen, die Bundesliga sowieso, aber auch bedeutungslose Begegnungen der Nationalelf müssen stattfinden, da testen wir gern alle Spieler, auch ohne Symptome, auch wenn die Labors im ganzen Land schon ächzen. Böllern zum Jahreswechsel muss erlaubt bleiben, denn Böller sind zwar sinnlos, laut, umweltfeindlich und zerfetzen auch mal den einen oder anderen Finger, aber das lautstarke Verpulvern vieler Millionen Euro um Mitternacht lassen sich die Deutschen nicht nehmen, ist quasi Kulturgut. Der gute Deutsche böllert dabei kontaktfrei im eigenen Vorgarten, sich zusammenrottenden migrantischen Jugendlichen in großstädtischen Ballungsräumen kann und wird man das unter Einsatz großer Polizeikräfte allerdings verbieten müssen.
Überhaupt, diese Ausländer: Deren Clans sind den Deutschen nicht nur dann suspekt, wenn sie Goldmünzen klauen oder Grüne Gewölbe ausräumen, es reicht schon, wenn sie eine Hochzeit feiern. Nein, feiern, also ausgelassen sein, das muss nicht sein, und wer es doch tut, ist ein asoziales Partymonster ohne Rücksicht auf die Großeltern. Außer, man feiert drei Tage kuschelig Weihnachten mit den Großeltern, das geht. Es wird aber das härteste Weihnachten der Nachkriegsgeschichte, weiß schon jetzt der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, und Jana aus Kassel kämpft tapfer wie einst Sophie Scholl, jedenfalls bis ihr jemand widerspricht.
Die Corona-Pandemie zwingt diese Gesellschaft zum Blick in den Spiegel, und zurück schaut ein mittlerweile ziemlich verwirrt dreinblickendes, zerrupftes deutsches Wesen, dem langsam dämmert: Das ist sein wahres Gesicht.