Kehrtwende der Länderchefs Ministerpräsidenten schließen Impfpflicht nicht mehr aus

Coronaimpfung in Frankfurt am Main
Foto: Thomas Lohnes / AFPTäglich werden in Deutschland neue Höchststände bei den Coronainfektionen gemeldet, eine Trendwende ist nicht in Sicht – im Gegenteil. Vielerorts bereiten sich Kliniken auf Intensivstationen an oder über der Kapazitätsgrenze vor. Angesichts der verheerenden Lage bahnt sich nun in der Politik eine Kehrtwende an. Die Mehrzahl der deutschen Ministerpräsidentinnen und Regierungschefs schließt eine Impfpflicht nicht mehr aus. Das ergab eine Umfrage des SPIEGEL in den Staatskanzleien.
»Wenn die zukünftige Bundesregierung eine entsprechende Novelle vorlegt, dann werde ich das unterstützen«, sagt Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). Eine solche Pflicht müsse in einem Bundesgesetz geregelt werden.
»Eine Impfpflicht ist unumgänglich, um aus der Dauerschleife von immer neuen Wellen herauszukommen«, sagte Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU). Auch Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) sagte, eine allgemeine Impfpflicht »können wir für die Zukunft mit Blick auf die bundesweite Situation sicherlich nicht ausschließen, wir müssen sehr ernsthaft darüber diskutieren«.
Damit wenden sich die Ministerpräsidenten von ihrem eigenen Beschluss ab. Vor genau einem Jahr, als sich im November 2020 gerade die zweite Welle aufbaute, hatten die Ministerpräsidentinnen und Regierungschefs bei einer Videoschalte mit Bundeskanzlerin Angela Merkel festgelegt, eine Impfpflicht sei »nicht sinnvoll und wird von Bund und Ländern abgelehnt«. Seitdem hatten Politiker und Politikerinnen fast aller Parteien immer wieder beteuert, eine Impfpflicht komme nicht infrage.
Umso schwieriger wird es nun, nach diesem kategorischen Ausschluss auf eine andere Linie umzuschwenken. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), derzeit Bundesratspräsident, kündigte an, er werde die Ministerpräsidentenkonferenz bitten, »eine gründliche Diskussion zum Thema Impfpflicht zu führen und den alten Beschluss zu überdenken beziehungsweise zu aktualisieren«. Dieser sei »nicht mehr zeitgemäß«, er selbst würde »einer solch kategorischen Festlegung heute nicht mehr zustimmen.«
Ramelow verwies auf einen Totimpfstoff, der bald zur Verfügung stehen soll – das wäre eine Brücke für bisherige Impfgegner auch unter den Linken, die die gentechnisch entwickelten mRNA- und Vektorimpfstoffe ablehnen.
Die nächste Runde von Bund und Ländern ist für den 9. Dezember geplant, also in gut zwei Wochen. Allerdings sind sich Fachleute einig, dass es rasche Maßnahmen braucht, um die vierte Coronawelle zu brechen – und dass selbst eine rasch eingeführte Impfpflicht die akute Misere nicht lindern würde, sondern Zeit bräuchte, um Wirkung zu zeigen.
Tobias Hans (CDU), Ministerpräsident im Saarland
Ein Sprecher Bouffiers rechtfertigt das Abrücken vom bisherigen Versprechen mit der Begründung, man müsse sehen, dass die Ausbreitung der Pandemie extrem dynamisch verlaufe und das Wissen über die Pandemie sich weiterentwickelt habe. »Vor drei oder vier Wochen hat uns auch noch niemand gesagt, dass wir jetzt in kurzer Zeit so viele Menschen boostern müssen«, so Bouffier. Die Maßnahmen müssten sich an die Ausbreitung und dem aktuellen Wissen über die Pandemie orientieren.
Sein saarländischer Kollege Tobias Hans (CDU) sagt über das Umdenken: »Die Coronapandemie hat gelehrt, dass das Virus nicht mit sich verhandeln lässt, daher sind wir gut beraten, künftig weder Denkverbote aufzustellen noch Maßnahmen grundsätzlich auszuschließen, die zum Schutz aller als letztes Mittel möglicherweise erforderlich sind.« Zunächst solle allerdings die Impfkampagne wieder verstärkt werden.
Angestoßen hatte die neue Impfpflichtdebatte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der sich als Erster für eine Impfpflicht aussprach. In Bayern sind die Infektionszahlen besonders hoch. Nach Söder hatte sich auch Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) offen für eine Impfpflicht gezeigt.
Inzwischen hat Söder sogar Baden-Württembergs grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann auf seine Seite gezogen. Die beiden warben in einem gemeinsamen Beitrag in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« für eine allgemeine Impfpflicht als »Voraussetzung dafür, dass wir unsere Freiheit zurückgewinnen«.
Malu Dreyer will Debatte über Impfpflicht nun »ergebnisoffen« führen
Selbst die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD), bisher eine vehemente Verfechterin des Freiwilligkeitsprinzips beim Impfen, sprach sich nun dafür aus, die Diskussion über eine Impfpflicht »ergebnisoffen« zu führen. Sie hatte zuletzt allerdings auch der von der MPK beschlossenen Impfpflicht für Mitarbeiter in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern zugestimmt.
Auch ihr Parteikollege Stephan Weil aus Niedersachsen ist inzwischen der Auffassung, unter bestimmten Bedingungen »kommt eine Impfpflicht in Betracht«. Sie sei allerdings kein Patentrezept, das kurzfristige Erfolge verspreche. Wie andere Regierungschefs, darunter Dreyer, Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) und Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD), forderte er allerdings, nun möglichst schnell erst die berufsbezogene Impfpflicht in der Pflege umzusetzen. »Haben diese schärferen Maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg, gibt es gute Gründe, sich für eine allgemeine Impfpflicht auszusprechen«, so Weil.
Der Ethikrat hat sich bisher noch nicht zu einer generellen Impfpflicht geäußert. Mitglieder wie die Kölner Strafrechtlerin Frauke Rostalski haben Bedenken, eine solche allgemeine Pflicht lässt sich aus ihrer Sicht nicht rechtfertigen. Der Berliner Staats- und Verfassungsrechtler Ulrich Battis erklärte dagegen, eine allgemeine Impfpflicht sei vom Grundgesetz gedeckt. Auch Hessens Regierungschef Bouffier, selbst Jurist, sagte, das sei »verfassungsrechtlich machbar.«
Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels wurde Bodo Ramelow als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz bezeichnet. Dieses Amt hat derzeit jedoch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst inne. Ramelow ist Bundesratspräsident. Wir haben die Stelle korrigiert.