Martin Knobbe

Ministerpräsidentenkonferenz Die Unerklärenden

Martin Knobbe
Ein Kommentar von Martin Knobbe
Die Länderchefs und die Kanzlerin müssen harte Maßnahmen gegen eine unsichtbare Gefahr beschließen. Dafür sollten sie sich einmütig und transparent zeigen – und endlich mehr als nur Beschlüsse vorlesen.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, Kanzlerin Angela Merkel, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder im Oktober im Kanzleramt

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, Kanzlerin Angela Merkel, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder im Oktober im Kanzleramt

Foto: Fabrizio Bensch / dpa

Vom Präventionsparadox war in dieser Pandemie oft die Rede. Christian Drosten sprach davon, in einem Interview mit dem britischen »Guardian«  im April. Die Lage damals: Nach dem ersten Corona-Shutdown war in Deutschland die Zahl an Neuinfektionen gesunken, auch der R-Wert, der anzeigt, wie viele Menschen im Durchschnitt von einem Infektiösen mit dem Virus ansteckt werden. Die Welle war gebrochen, die Intensivstationen waren weniger ausgelastet als gedacht. Die ganze Welt blickte mit Bewunderung auf Deutschland, während in Italien Militärlaster Särge abtransportierten.

Und doch fragten viele: War das alles nötig? Die Kontaktsperren, die Schließung von Geschäften und Restaurants, die Grenzkontrollen, das Herunterfahren eines Landes? War das nicht übertrieben, angesichts der niedrigen Zahlen?

Es ist die Tragik vorausschauender Politik: Weil sie sehr früh verhindert, was als Schlimmstes befürchtet wurde, wird ihr die Legitimation abgesprochen, da am Ende gar nichts Schlimmes geschehen ist. Es ist das Paradoxon, von dem Drosten spricht.

Tatsächlich ist im Nachhinein kaum zu klären, ob auch weniger harte Maßnahmen ausgereicht hätten, ob jeder Schritt tatsächlich nötig gewesen ist, doch diese Fragen sind müßig, denn am Ende zählt das Ergebnis: weniger Kranke, weniger Tote.

Es hilft, sich die Situation aus dem Frühjahr vor Augen zu führen, wenn die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten heute mit der Kanzlerin konferieren.

Die Lage ist ähnlich: Es gilt, etwas zu verhindern, was noch abstrakt ist. Die rapide Ausbreitung einer Mutante des Virus, die ansteckender ist als die ursprüngliche Form. Waren die Särge aus Bergamo das Angstszenario im Frühjahr, so sind es jetzt die überfüllten Kliniken in Großbritannien, wo die Mutante B.1.1.7 bereits wütet. Es ist das Negativszenario: So wollen wir nicht enden.

Die Lehren aus Großbritannien sind schlicht und klar: Die britische Regierung hat zu lange mit einem harten Lockdown gewartet, die Mutante breitete sich aus wie ein Flächenbrand, nun reichen die Hydranten nicht mehr aus zum Löschen.

Will man diesen Flächenbrand in Deutschland verhindern, muss man früh mit dem Löschen beginnen und braucht viel Wasser. Aus präventiver Sicht gibt es keine Alternative zu einer Verlängerung des Shutdowns und zu einer Verschärfung der Maßnahmen.

Die Bereitschaft der Deutschen nimmt ab

Aber es gibt noch eine zweite Lehre aus Großbritannien: Der Shutdown kam nicht nur spät, er wirkte auch nicht, weil ihn viele nicht mitmachten. Sie haben das Vertrauen in ihre Regierung verloren, vielleicht waren sie auch nur Corona-müde.

Auch die Deutschen sind müde, auch bei ihnen sinkt die Bereitschaft, den Empfehlungen der Kanzlerin blind zu folgen. Das war im Frühjahr anders. Das Virus war neu, das breite Wissen darüber noch nicht vorhanden. Nun gibt es viel Wissen, fundiertes und weniger fundiertes, die Menschen fühlen sich informiert und mündig, es gibt plötzlich sehr viele Experten.

Corona-Transport in Großbritannien

Corona-Transport in Großbritannien

Foto: Yui Mok / dpa

Im Frühjahr sorgte das Nichtwissen für großes Vertrauen in die Politik und die sie beratende Wissenschaft, nun führt das vermeintlich größere Wissen bei einigen zu Skepsis und Zurückhaltung. »Die aktuellen Maßnahmen müssen kompensieren, was im ersten Lockdown an zusätzlichen freiwilligen Maßnahmen ergriffen wurde und jetzt zur effektiven Eindämmung fehlt«, schreibt Cornelia Betsch, Professorin für Gesundheitskommunikation, die gestern die Länderchefs in einer Expertenanhörung beriet.

Gegen die Müdigkeit hilft erstens Transparenz. Es reicht nicht mehr, wenn die Kanzlerin am Abend den gemeinsamen Beschluss verliest und drei Fragen von Journalisten beantwortet. Die Politik muss erklären, auf welchen Grundlagen ihre Beschlüsse fußen. Welche Erkenntnisse gesichert, welche nur Annahmen sind. Sie muss die Szenarien, die sie sieht und fürchtet, beschreiben. Und die Maßnahmen begründen, die sie beschließt. Dabei muss sie auch eigene Zweifel einräumen, etwa in der Frage, was genau für die hohen Infektionszahlen in Irland verantwortlich war, die Mutante oder zu frühe Lockerungen? Sie muss wieder ins Bewusstsein rücken, warum Deutschland im Frühjahr so erfolgreich war. Sie muss das Präventionsparadox auflösen – und die frühe Vorsorge als Erfolgsmittel zelebrieren.

Es braucht Hoffnungskonstrukte

Zweitens muss die Politik solide Szenarien aufbauen und Zumutbarkeiten überprüfen. Kann trotz Shutdown der Präsenzunterricht in den Schulen beginnen, wenn etwa deutlich mehr Menschen ins Homeoffice geschickt werden? Und wenn das nicht geht: Wie sind die Perspektiven der von Pandemie so hart getroffenen Schüler? Es braucht Hoffnungskonstrukte, wenn die Bürger in den nächsten Monaten weiter mitmachen sollen.  

Drittens hilft die Einmütigkeit der Politik. Je unterschiedlicher die Länder agieren, desto unglaubwürdiger wirken ihre Maßnahmen: Warum soll ich die Regel in meinem Bundesland befolgen, wenn sie ein anderes nicht für geboten hält? Sie kann ja dann so dringlich nicht sein. Im großen Regelchaos blicken viele nicht mehr durch, auch das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass diese Regeln gar nicht mehr befolgt werden.

Sind sich die Regierungschefs einig, dass sie auch jetzt wieder früh und präventiv handeln müssen, dann sollten sie auch einer Meinung darüber sein, wie sie handeln wollen. Haben Sie sich geeinigt, dürfen sie nicht zögern und müssen mit den Maßnahmen sofort starten.

Zuletzt im Oktober und November hatten die Länder zu lange gezögert. Sie konnten sich nicht auf die Vorschläge des Kanzleramts einlassen, auch aus machtpolitischen Gründen. Die hohen Zahlen der vergangenen Wochen waren auch die Folge dieses Zögerns.

Damals erlebte der Föderalismus einen Tiefpunkt. Es sollte sein einziger in dieser Pandemie bleiben.

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