Corona-Politik SPD will nicht allein auf Inzidenzwerte setzen

Rechtspolitiker der SPD-Bundestagsfraktion rücken von der Regierungslinie ab, Corona-Maßnahmen vornehmlich an die Infektionsrate zu koppeln. Sie fordern eine leichtere Öffnung von Schulen und Kitas.
Bundestag während einer Regierungserklärung von Kanzlerin Merkel

Bundestag während einer Regierungserklärung von Kanzlerin Merkel

Foto: Bernd von Jutrczenka / dpa

In der SPD-Bundestagsfraktion wächst der Widerstand gegen den Corona-Kurs der eigenen Bundesregierung. So rücken SPD-Rechtspolitiker von der Sieben-Tage-Inzidenz als alleinigem Maßstab der Pandemiebekämpfung ab.

Wenn in der kommenden Woche eine neuerliche Änderung des Infektionsschutzgesetzes ansteht, wollen die SPD-Politiker auch die Zahl freier Intensivbetten berücksichtigen, außerdem die tatsächliche Fähigkeit der Gesundheitsämter, Infektionsketten nachzuverfolgen.

Viele EU-Länder hätten neben der Infektionsrate weitere Kriterien für die Einschränkung von Grundrechten, sagte der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Johannes Fechner, dem SPIEGEL: »Die brauchen wir auch. Außerdem muss viel klarer sein, was wann eingeschränkt werden darf, damit man nicht sofort die Keule auspacken kann.«

Fechner fordert transparente Stufenpläne, »damit die Maßnahmen verhältnismäßig ausfallen – angepasst an die örtlichen Begebenheiten«.

Außerdem wollen die SPD-Rechtspolitiker die Ausgangsbeschränkungen erschweren und den Schulen und Kitas im Infektionsschutzgesetz eine höhere Priorität einräumen. »Damit das wirklich nur das letzte Mittel ist«, sagt Fechner.

»Ihr habt doch einen Vogel«

Je länger die Grundrechtseingriffe anhalten, desto lauter wird die Kritik von Abgeordneten. Manuela Rottmann, Obfrau der Grünen im Rechtsausschuss, sagte: »Wenn monatelang Geschäfte gesperrt werden, steigt die Begründungslast. Die Sorge vor Mutanten reicht als Begründung nicht aus. Es werden weitere Mutanten kommen.«

Rottmann kritisiert, dass sich die Regierung zu viel Zeit nehme, um die Maßnahmen zu überprüfen. Bis Ende 2021 soll die Leopoldina-Akademie eine Studie über deren Wirksamkeit vorlegen. Bis März 2022 will die Regierung diese mit Kommentaren dem Bundestag zuleiten. Rottmann: »Als ich das gelesen habe, habe ich gedacht: Ihr habt doch einen Vogel.«

Die Grüne fordert, genau zu untersuchen, wie die Lage in den Gesundheitsämtern ist und wie viele Infektionsketten sie wirklich rekonstruieren können. »Wir brauchen Kontaktnachverfolgung, Teststrategien, Selbsttestung – und Schließungen. Aber in Deutschland konzentriert sich alles auf Schließungen, die anderen Faktoren werden nicht ins Verhältnis gesetzt.«

Ähnlich sieht es auch Jürgen Martens, rechtspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion. »Die Grundrechtseingriffe müssen mit eindeutigen Zahlen begründet werden«, fordert er. Diese müsse die Bundesregierung transparent machen. Es reiche nicht aus, zu sagen, die neue Virusvariante verbreite sich schneller. »Bund und Länder müssen ihrer verfassungsrechtlichen Begründungspflicht Folge leisten. Sie haben entschieden, den Bundestag dabei zu umgehen, dann tragen sie auch die Verantwortung und müssen sich erklären.«

Schon in der Anhörung im Bundestag im letzten Jahr forderten Fachleute, dass sich die Politik auch an anderen Kriterien neben den Inzidenzwerten orientiert. Doch damals konnten sie sich nicht durchsetzen.

Die Rechtswissenschaftlerin Andrea Kießling von der Ruhr-Universität Bochum und Sachverständige für die Grünen zum Infektionsschutzgesetz sagt: »Es gibt Landkreise mit hohen Zahlen, weil dort das Virus hauptsächlich in Pflegeheimen ausgebrochen ist. Dann müssen sich die Maßnahmen auch darauf konzentrieren.« Dann dürfe man nicht mit Schulschließungen reagieren.

Außerdem findet Kießling: »Nur Lockdown, das ist unkreativ. Bleibt der Lockdown das einzige Mittel, dann wäre das auf Dauer nicht verhältnismäßig. Stattdessen sollte man zügig den Einsatz von Schnelltests ausweiten, vor allem in Kitas und Schulen.«

Rechtswissenschaftler: »Datenerhebung ist unterkomplex«

Der Rechtswissenschaftler Hinnerk Wißmann von der Uni Münster, der sich am kommenden Montag als Sachverständiger für die FDP-Fraktion in die Bundestagsanhörung zuschalten wird, sagt: »Wenn die Risikogruppen geimpft sind, muss man mit der Inzidenzzahl anders umgehen.«

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Junge Leute hätten mehr Kontakte als Pflegeheimbewohner, das lasse sich schwerer nachverfolgen, zugleich würden sie seltener schwer krank. »Die Inzidenzzahl sollte also an Altersgruppen gekoppelt werden. Und sie muss auch ins Verhältnis dazu gesetzt werden, wie viel getestet wird.«

Außerdem fordert Wißmann »fortlaufend gesamt repräsentative Erhebungen, um zu wissen, wie sich das Virus verbreitet«. Stattdessen stütze man sich nur auf die Daten der Gesundheitsämter. »Für die Steuerung eines Landes nach einem Jahr Pandemie ist das unterkomplex.«

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