Jonas Schaible

Machtlosigkeit wegen Corona Die geistig-moralischen Wände der Pandemie

Jonas Schaible
Ein Essay von Jonas Schaible
Die Pandemie dauert schon ein Jahr. In den immer gleichen Debatten streiten die immer gleichen Experten über die immer gleichen Fragen. Träge Routine hat Einzug gehalten und mit ihr die große Gereiztheit.
Eisenbahnunterführung in Offenbach, 11. Januar 2021

Eisenbahnunterführung in Offenbach, 11. Januar 2021

Foto: Frank Rumpenhorst / dpa

Da sitzt man so zu Hause, seit viel zu vielen Tagen zu Hause, Wände links, rechts, vorn, hinten, einmal umdrehen, immer noch Wände links, rechts, vorn, hinten. Raum verlassen, wenn man einen zweiten hat, Raum betreten, Wände links, rechts vorn, hinten.

Nicht das ganze Leben findet hier statt, aber ein großer Teil. Ein zu großer Teil.

Fast ein Jahr dauert die Pandemie nun schon. Zu Beginn dieser Zeit waren diese Wände, die den Körper beschränkten, die eine große Herausforderung. Die andere Herausforderung bestand in der Erkenntnis, dass diese Gesellschaft ins Offene geht; dass da keine selbstverständlichen Beschränkungen für die Zukunft mehr stehen.

Es war ein Moment, in dem die alte Normalität zersprungen war. Eine beunruhigende Zeit, aber auch eine anregende. Man schrieb Tagebuch und klatschte und streamte und erfand neue Kunst, Arbeit und Zuwendung.

Diese Frage, wie die Normalität aussehen wird, wenn alles vorüber ist, falls es wegen der Mutationen in einem herkömmlichen Sinne überhaupt vorüber sein wird, ist heute noch genauso offen wie damals. Sie wird unbeantwortet bleiben, bis es so weit ist.

Was sich dagegen mittlerweile beschreiben lässt, ist das Wesen dieser Zeit zwischen den Normalitäten. Über sie hat man einiges gelernt, und gerade das erklärt vielleicht einen großen Teil der Gereiztheit und Zermürbung, die in diesen Tagen erkennbar wird, und die sich nicht allein auf den Winter, die Dauer der Pandemie oder den langsamen Impfstart zurückführen lässt.

Anders als vor einem Jahr können wir heute recht sicher sein zu wissen, wie die kommenden Monate aussehen werden. Ein Trost ist das nicht.

Es gab viel zu begreifen, viel zu probieren

Man musste keine Hoffnungen auf eine neue Gesellschaft hegen, um zu Beginn der Pandemie Halt im Versuch des Verstehens zu finden: Was tut dieses Virus? Wie gefährlich ist es? Für wen? Wie verbreitet es sich? Wie lässt sich die Verbreitung bremsen? Welchen Handlungsspielraum hat der Staat? Wie muss man Studien anlegen, um all das zu verstehen? Kann man einen Impfstoff finden? Wird er wirken? Wie lässt er sich in großem Stil produzieren? Könnte er der ganzen Welt schnell zugänglich gemacht werden? Wie müsste man mit Patenten und Lizenzen verfahren?

Es gab, kurz gesagt, viel zu begreifen, viel zu probieren, viel zu lernen, und es gab die Aussicht, dass nicht nur das Virus sich verbreitet und anpasst, sondern dass auch wir Menschen uns anpassen. Dass wir klüger werden, erfolgreicher, dass es sich lohnt, Opfer zu bringen, nicht nur um größere Opfer zu vermeiden, sondern auch weil wir so kollektiv vorankommen.

Heute ist davon nicht mehr viel übrig.

Man wusste sehr früh sehr viel Wichtiges über das Virus, und man ahnt heute, dass daraus nicht viel erwächst. Die Aussicht, dass es sich lohnt, klüger zu werden, ist spätestens in diesem Winter der Einsicht gewichen, dass vermutlich einfach alles seinen Gang geht.

Zu den Wänden, die den Körper beschränkten, während die Zukunft so erschütternd offen war, sind neue Wände getreten, geistig-moralische Wände, die die Vorstellungskraft und das Denken einengen.

Immer gleiche Debatten mit immer gleichen Experten

Die Reaktionen auf das Virus sind, über den Daumen gepeilt, heute die gleichen wie vor zehn Monaten. Die Expertinnen und Experten, die seriösen und die nicht immer seriösen, sind die gleichen, und sie spielen die gleichen Rollen, in denen sie die gleichen Sätze sagen. Die Debatten sind die gleichen, die immer und immer gleichen, in denen die gleichen Argumente ausgetauscht werden, die abgewetzt sind wie ein zu viel getragener Pullover.

Nun sind Debatten in einer Demokratie so unvermeidlich wie wichtig, aber wenn sie über die Zeit zum Ritual werden, zermürben sie.

Man wusste von Beginn an, dass sich das Virus exponentiell verbreitet, dass Schnelligkeit deshalb alles ist, wenn man reagiert, und dass mit jedem Infizierten die Gefahr einer gefährlichen Mutation steigt.

Man wusste früh, dass Masken die Übertragung mindern, dass Luftfilter helfen, dass Abstände in geschlossenen Räumen wenig helfen, dass auch Kinder und Jugendliche das Virus aufnehmen und weitergeben, dass das Virus tödlicher ist als die Influenzaviren und dass es umso tödlicher wird, je älter ein Mensch ist, dass die Verbreitung nur zu Teilen an den Jahreszeiten hängt, dass Tests und entschlossene Quarantäne entscheidend sind, dass mehr Tests immer besser sind als weniger Tests, dass Impfstoffe wahrscheinlich sind und die einzige dauerhafte Lösung. Man wusste aber auch, dass Länder unter bestimmten Bedingungen das Virus fast austrocknen können.

Natürlich kann jede neue Mutation die Virologinnen noch ein ganzes Leben beschäftigen, fraglos ist die Situation herausfordernd, aber für die Gesellschaft war es ein wenig wie mit Donald Trump: Woran wir sind, war rasch klar erkennbar.

Trotzdem wurde den Sommer über geleugnet, dass eine zweite Welle einen zweiten Lockdown nötig machen könnte, aber bestenfalls einen kurzen, zum richtigen Zeitpunkt. Noch im Oktober entschieden die Regierungen, es spät und dann mit schwachen Maßnahmen zu probieren.

Kritik ist wohlfeil, wenn sie daraus besteht, hinterher alles vorher gewusst zu haben, aber hier geht es darum, nicht zu ignorieren, was man längst weiß.

Noch immer haben Schulen keine Filter. Noch immer wurden flächendeckende Schnelltests mit Meldepflicht nicht versucht, noch immer wird überhaupt kaum getestet, heute sogar weniger als im Sommer und im Herbst. Noch immer gilt vielerorts in Innenräumen keine Maskenpflicht, solange man Abstand hält, während in Ländern wie Vietnam und Taiwan, wo das Virus weitgehend besiegt wird, auch draußen viele Masken tragen.

Noch immer wird bestritten, dass Schulen oder Restaurants oder Büros wirklich Orte der Ansteckungen sind, auch wenn niemand erklären kann, warum sie es nicht sein sollten. Noch immer kursiert dieses Wort »Treiber« der Pandemie, fast immer im Zusammenhang mit der Behauptung, Schulen oder Fitnessstudios oder Büros seien keine Treiber der Pandemie – als bedeutete es irgendetwas, als triebe nicht jeder, der ein hochinfektiöses Virus weitergibt, die Pandemie. Noch immer reden Bildungspolitiker gern davon, es habe sich nur ein geringer Prozentsatz von getesteten Schülern infiziert, weil das nach wenig klingt, auch wenn 0,1 Prozent eine Inzidenz von 100 auf 100.000 bedeutet, was sehr viel ist.

Noch immer entscheidet das Gremium aus Bundesregierung und Landesregierungen, die Ministerpräsidentenkonferenz, ad hoc, in kurzen Rhythmen, ohne ein echtes System, das Reaktionen strukturieren würde.

Noch immer werden Einwände vorgebracht, die heute so richtig sind wie im Sommer, die aber heute wie damals von Voraussetzungen ausgehen, die nicht gegeben sind: Ein Lockdown belastet die Menschen, und Kinder brauchen die Schule, aber das hat ja nie jemand bestritten. Nur ist da eben dieses Virus, und man muss damit umgehen.

Noch immer kommuniziert die Regierung an entscheidenden Punkten vage. Was genau damit gemeint ist, es werde ein »Impfangebot« geben, vermag verlässlich niemand zu sagen – vielleicht, dass man geimpft wird, vielleicht nur, dass man einen Termin in Aussicht hat. Noch immer heißt es, man peile eine Inzidenz von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Menschen in sieben Tagen an, weil ab dieser Schwelle die Gesundheitsämter die Infektionsketten nachverfolgen könnten, obwohl sich gezeigt hat, dass sie das höchstwahrscheinlich nicht können. Noch immer wird also eine Zielmarke verbreitet, von der ziemlich offensichtlich ist, dass sie nicht zu halten sein wird.

Dazu kommen Regierungsvertreter, die Fehler einräumen und im selben Atemzug die Verantwortung von sich abschieben, notfalls auch mit Falschbehauptungen.

Noch immer ist fast alles Private verboten und vieles in der Arbeitswelt erlaubt, und niemand weiß genau, warum eigentlich.

Noch immer gibt es keine klaren Quarantäneroutinen, eher wurden Quarantäneregeln gelockert und unsystematischer, durch Freitesten, durch Verkürzen oder weil Schüler trotz Kontakt zu Infizierten nicht in Quarantäne mussten. Heute geht man, das ist jedenfalls der Eindruck im Alltag, eher mit verstopfter Nase aus dem Haus als im Frühjahr.

Noch immer behaupten die einen, man könne gefährdete Menschen etwa in Pflegeheimen schützen, während draußen das Virus grassiere, obwohl das bisher nur unzureichend gelungen ist. Noch immer behaupten zugleich die anderen, eine vollständige Eindämmung des Virus sei unmöglich, obwohl sie in einigen Staaten gelungen ist. Noch immer wird entgegnet, Deutschland sei keine Insel und anders als China ein Rechtsstaat, als könne man deshalb überhaupt nicht klüger werden durch einen Blick auf diese verschiedenen Staaten.

Noch immer heißt es, ein Impfstoff sei keine Wollmütze, man könne die Produktion nicht schnell hochfahren, das sei kompliziert, während Hersteller selbstverständlich Produktionskapazitäten erweitern. Noch immer gibt es keine Antworten auf die Frage, wie eigentlich der globale Süden in absehbarer Zeit an einen Impfstoff kommen könnte.

Kritik ist wohlfeil, wenn sie daraus besteht, hinterher alles vorher gewusst zu haben, aber hier geht es darum, nicht zu ignorieren, was man längst weiß.

Hinter der Lage herlaufen

So erklärt sich das Grundgefühl, das sich in diesen Tagen in vielen Gesprächen zeigt: Zermürbung. Die Pandemie ermattet, sie frustriert, sie schafft auf so vielen Ebenen Leid, durch Krankheit, Tod, durch Isolation und Existenzangst, und der Umgang mit ihr zermürbt endgültig. Wenn man fürchten muss, dass es genauso weitergeht, immer einen Schritt langsamer als das Virus, manchmal auch zwei, dann bleibt nur Resignation.

Erst recht, wenn der Impfstoff noch Monate weg ist, wie sich jetzt zeigt, wobei die Probleme mit der Impfstoffversorgung nur deutlich machen, was auch sonst erfahrbar ist: dass man schon wieder hinter der Lage herläuft.

Das Gefühl bildet sich auch in Umfragen ab: Erstmals sind mehr Menschen unzufrieden mit dem Management der Regierung, als damit zufrieden sind. Da vor wenigen Tagen noch lediglich eine Minderheit weniger Einschränkungen wollte, darf man annehmen, dass der Grund für die Unzufriedenheit nicht der lange Lockdown ist, sondern das Gefühl, dass einfach nichts vorangeht.

Nichts geht voran, nichts ändert sich, es ist egal, was man erprobt, erkennt, ersinnt. Das Klatschen ist verstummt, das Hauskonzert abgesagt, das Tagebuch verschlossen. Warum auch nicht? Gearbeitet wird im Büro, warum auch nicht? Wozu sich anstrengen? Ohnmacht regiert, der Eindruck von kollektiver Handlungsunfähigkeit. Lähmung.

Es heißt in diesen Tagen immer wieder, es fehle an einer Perspektive: einem Zeitpunkt, an dem gelockert werde, an dem sich wieder etwas normalisiere. Das stimmt vermutlich, aber es stimmt nicht ganz.

Entscheidend ist nicht so sehr die Aussicht auf ein Ziel, sondern auf einen Weg. Entscheidend ist, dass wieder das Gefühl einkehrt, dass nicht alles, was man tut, vergeblich ist, weil sowieso alles bleibt, wie es zuletzt war.

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