Janko Tietz

Lockdown in der Coronakrise Alles schließen

Janko Tietz
Ein Kommentar von Janko Tietz
Was bisher Lockdown heißt, ist offenbar wenig geeignet, Infektions- und Todeszahlen zu senken. Trotzdem will die Politik die halbgare Maßnahme verlängern. Stattdessen braucht es endlich strengere, aber kurzfristigere Regeln.
Produktion der S-Klasse bei Daimler in Sindelfingen (April 2020)

Produktion der S-Klasse bei Daimler in Sindelfingen (April 2020)

Foto: Marijan Murat / dpa

Als am 16. Dezember 2020 wieder ein »richtiger Lockdown« in Kraft trat, wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder die Maßnahme damals bezeichnete, meldete das Robert Koch-Institut am Sonntag zuvor 20.200 neue Corona-Infektionen und 321 neue Todesfälle. Den »richtigen Lockdown« begründete Bundeskanzlerin Merkel damit, dass der seit Anfang November geltende Teil-Lockdown »nicht gereicht« habe. »Die Lage ist eigentlich wieder 5 vor 12«, sagte auch Söder Mitte Dezember. »Deswegen wollen wir keine halben Sachen mehr machen.«

Doch der »richtige Lockdown« wie auch der vorherige Teil-Lockdown waren halbe Sachen. Und nun sind die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten sowie das Kanzleramt drauf und dran, diese halben Sachen noch einmal zu verlängern. Lockerdown statt Lockdown. Vielleicht um zwei Wochen, vielleicht um drei, vielleicht in einigen Bundesländern mit Schul- und Kitaöffnungen, vielleicht auch ohne, vielleicht mit regionalen Lockerungen, vielleicht auch nicht. Ende Januar schauen wir mal. Die Bevölkerung darf sich auf weitere Wochen Kompetenzgerangel, Profilierungsschauspiel und Notwendigkeiten in Häppchen freuen.

Die deutschen Gesundheitsämter meldeten am Sonntag 10.315 Corona-Neuinfektionen und 312 neue Todesfälle binnen einem Tag. Weil während der Weihnachtsfeiertage und um den Jahreswechsel wohl nicht alle Ämter ihre Daten übermittelten, ist mit erheblichen Nachmeldungen zu rechnen, manche kalkulieren mit dem Faktor zwei. Auch wurden seit Weihnachten weniger Menschen getestet. Es drohen mindestens so hohe Zahlen wie jene zu Beginn des »richtigen Lockdowns«. Er funktioniert also nicht – zumindest nicht in gewünschtem Maße.

Dieser »richtige Lockdown« gilt nun seit fast drei Wochen. Wir haben gelernt, dass heute das Infektionsgeschehen von vor zehn Tagen abgebildet wird. Wenn der »richtige Lockdown« also wirksam wäre, müssten die Zahlen sinken, jeden Tag ein bisschen mehr. Das tun sie aber nicht, allenfalls wird die Welle gebrochen, wie SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach gegenüber dem SPIEGEL konstatierte. Doch das auf einem viel zu hohen Niveau: Aktuell liegt der Bundesschnitt bei einer Sieben-Tage-Inzidenz bei knapp 140 Neuinfizierten pro 100.000 Menschen.

Lauterbach spricht deshalb bereits von einem »Langzeitlockdown«, mit dem die Inzidenz gedrückt werden soll. Wie Lauterbach will auch Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) den früheren Grenzwert von 50 Neuinfizierten pro 100.000 Menschen auf 25 drücken, bevor Lockerungen möglich seien.

Mit den Mitteln des jetzigen Lockdowns ist das nicht nur vollkommen unrealistisch, sondern für die Bevölkerung auch unzumutbar. Vor allem vor dem Hintergrund, dass in Deutschland bereits die mutierte Virusvariante B.1.1.7 nachgewiesen wurde und niemand weiß, wie schnell sie sich ausbreitet. Diese Variante ist weitaus ansteckender als die bisherige. Verlängerung des bisherigen Lockdowns hieße, einen Großbrand auf unbestimmte Zeit weiterhin mit Feuerlöschern zu bekämpfen, statt einmal die Feuerwehr einzusetzen.

Warum? Weil der Lockdown gar kein richtiger Lockdown ist. Das Virus verbreitet sich allein durch Kontakte – und von denen gibt es immer noch viel zu viele.

Für die Symbolik ist es sicher nicht dienlich, dass die Bundesliga spielt und die Skispringer von den Schanzen springen. Doch das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass sich Bürotürme allen Warnungen zum Trotz immer noch mit Menschen füllen, dass die Bänder bei Daimler und Volkswagen laufen, dass Handwerker auf ihren Baustellen zusammenarbeiten.

Millionen Menschen fahren jeden Tag zur Arbeit, und wenn sie nicht in Bussen oder S-Bahnen Kontakte hatten, haben sie sie spätestens im Job. Für rund die Hälfte aller Erwerbstätigen ist Homeoffice gar nicht möglich. Fast 15 Prozent aller, die Homeoffice theoretisch nutzen könnten, nutzen es nicht.

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Die Politik hat sich bisher mit Appellen beholfen. Arbeitgeber wurden gebeten zu prüfen, ob Unternehmen Betriebsferien oder Homeoffice-Lösungen anbieten können. Menschen wurden gebeten, ihre möglichen Privatkontakte nicht auszureizen. Berlins Regierungschef Michael Müller betonte, es seien weiter »Dinge möglich«, wie zuletzt an Weihnachten. »Aber man muss auch nicht alles machen, was möglich ist.«

Eine Erkenntnis des jetzigen Lockdowns aber ist, dass Appelle nichts nützen. Die Menschen machen eben, was möglich ist. Und das ist ihnen nicht mal zu verübeln. Es ist natürliches Verhalten, das Leben so normal wie möglich zu gestalten. Die einen suchen Zerstreuung bei privaten Silvesterpartys, andere lenken sich im Schnee ab, sogar Karl Lauterbach geht gefühlt jeden zweiten Tag in eine Talkshow und missachtet seine eigenen Appelle, möglichst auf Kontakte zu verzichten.

Auch wenn die jetzige Form des Lockdowns bis Ende Januar verlängert wird, werden die Zahlen wohl nicht signifikant gesunken sein. Mitunter erinnert die Vorgehensweise an einen wissenschaftlichen Versuchsaufbau, in dem man kleine Variablen modifiziert und fasziniert schaut, ob sich was verändert. Wir sind aber nicht in einem Labor, erst recht nicht unter Idealbedingungen. Mit einer Gesellschaft kann man keine Experimente machen wie im Physiklabor. Was die Politik bis jetzt gescheut hat, ist, den Rest der Wirtschaft ebenso hart zu reglementieren wie Gastronomie, Einzelhandel oder Privatkontakte. Womöglich wird man daher Ende Januar wieder sagen: Hat leider nicht gereicht, wir müssen weiter verlängern.

Stattdessen sollte sich die Politik jetzt durchringen, einen harten Lockdown zu beschließen. Solange nicht hinreichend erforscht ist, wo genau die Infektionsherde sind, sollte das Land also kurzzeitig komplett stillgelegt werden. Das heißt: Alles schließen außer Lebensmittelläden. Alle, die nicht rausmüssen, bleiben zu Hause. Zwei Wochen lang. Wenn die Küche kalt bleiben kann, wenn die Ränge leer und die Instrumente stumm bleiben können, kann auch das Band bei Daimler stehen. Die Politik glaubt, das sei einer Gesellschaft nicht zuzumuten. Doch die viel größere Zumutung ist die ewige Hängepartie bei gleichbleibend hohen Infiziertenzahlen, statt einmal den Versuch zu unternehmen, sie innerhalb eines kurzen Zeitraums brachial zu drücken.

Natürlich wird sofort eine Diskussion beginnen, welche Industrie weiterarbeiten darf und welche nicht. Die Pharmabranche sicher ebenso wie die Lebensmittelproduktion. Das genau auszuarbeiten, hatte die Politik mehr als ein halbes Jahr Zeit, denn schon Ende des Frühjahrs 2020 wurde eine zweite Infektionswelle prognostiziert. Diese Zeit hat die Politik ungenutzt verstreichen lassen – wohl auch aus Furcht vor den volkswirtschaftlichen Kosten. Doch die sind im Zweifel bei einem Lockdown nach bisherigem Muster mit zahlreichen Pleiten und vielen Arbeitslosen noch viel höher.

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