Vergangene Woche hatte die Bundeskanzlerin einen Auftritt vor der Hauptstadtpresse, und da sagte sie mit Blick auf das Sterben in den Altersheimen: »Mir bricht es das Herz.« Irgendwann sagte sie auch: »Wir haben uns Gedanken gemacht, was die mittlere Leistungsfähigkeit eines Gesundheitsamtes in Deutschland ist.« Von den beiden Sätzen geht mir einer immer noch im Kopf herum. Der mit dem Herz ist es nicht.
Dabei nehme ich der Kanzlerin Empathie und Mitleid durchaus ab, sie ist weder ein hartlederner Echsenmensch noch allein ein kalter Block aus Vernunft und Macht. Aber mehr als ihr gebrochenes Herz bringt das Wort von der »mittleren Leistungsfähigkeit eines Gesundheitsamtes« ihr und unser Jahr mit Corona auf den Punkt: in einem Land, das dank einer stabilen Verwaltung, entschlossener Politiker und voller Kassen gut durch die erste Welle der Pandemie gekommen ist. Und das in der zweiten Welle große Probleme hat, weil bei Behörden »stabil« auch »starr« heißt und bei Politikern »entschlossen« auch »stur«.
Die Bundeskanzlerin erklärte weiter, was jeder wissen kann, wiewohl es sprachlos macht: Die permanent postulierte Zielzahl von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in sieben Tagen markiert die Grenze, jenseits derer die Gesundheitsämter bei der Rückverfolgung der Corona-Infektionen nicht mehr nachkommen, mithin die lokale Kontrolle über die Pandemie verlieren. Oder in den eigenen Worten der Kanzlerin: »Daraus entsteht die 50, nicht aus irgendeiner wissenschaftlichen Grundlage.« Wenn das so ist, sollten also bitte keine Wissenschaftler mehr beim nächsten Treffen im Kanzleramt vorsprechen, sondern Verwaltungsexperten.
Wir werden Zeuge einer beispiellosen Selbstverzwergung der mächtigsten Frau der Welt, wie Angela Merkel oft genannt wird: Die »50« ist und bleibt das Ziel ihrer gesamten Corona-Politik, aber es handelt sich um einen Engpass örtlicher Behörden, von dem sie sich Kurs und Tempo in der Jahrhundertpandemie vorgeben lässt – vom ersten Tag an bis heute. Es ist wie ein Fluch.
Man würde nicht glauben, wie wenig geschehen ist, die Gesundheitsämter aufzurüsten: neben jedes Faxgerät viele vernetzte Computer, neben jeden Beamten Hunderte Helfer? Nix da in der viertgrößten Volkswirtschaft des Planeten.
In der antiken Sage ist die Rachegöttin Nemesis die Tochter der Nyx, die Tochter der Nacht. Die Nemesis der Kanzlerin ist das deutsche Gesundheitsamt, erreichbar von nine to five, knapp 400 davon gibt es in Deutschland. Laut Wikipedia sind ihnen je zwölf Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes zugewiesen, eine davon ist die »Durchführung des Infektionsschutzgesetzes, beispielsweise die Prüfung der Bürger auf das Virus Sars-Cov-2«. Man würde glauben, es sei seit einem Jahr die wichtigste Aufgabe. Aber man würde nicht glauben, wie wenig in diesem Jahr geschehen ist, diese Ämter aufzurüsten: neben jedes Faxgerät viele vernetzte Computer, neben jeden Beamten Hunderte Helfer? Nix da in der viertgrößten Volkswirtschaft des Planeten.
Weniger als ein Drittel der Gesundheitsämter sind an das bundesweite digitale Corona-Management »Sormas« angeschlossen, der Rest nicht. Man ahnt es: Bund und Länder brauchen lange, sich auf die Details zu einigen. Zudem scheint das Wochenende vielerorts heilig zu sein, weswegen die zentral vermeldeten Zahlen zu Anfang einer jeder Woche nicht zu gebrauchen sind.
Angela Merkel hat zwar früh eine Parallele zur Flüchtlingskrise 2015/16 gesehen, aber nicht gezogen. Auch damals prallte eine große Krise auf einen unvorbereitet-schwachbrüstigen Teil der deutschen Verwaltung, Hunderttausende Flüchtlinge und Asylsuchende auf das Bundesamt für Migration sowie die örtlichen Ausländerämter. Von ihnen gibt es ähnlich viele wie Gesundheitsämter, aber gleich zu Beginn der Krise wurden sie unter Hochdruck aus dem Kanzleramt aufgerüstet. Frank-Jürgen Weise, einer der besten Verwaltungsoptimierer des Landes, wurde eigens dafür von Merkel berufen und hatte binnen Monaten zählbaren Erfolg. Absolut nichts dergleichen geschah, als die Pandemie auf die Gesundheitsämter traf.
Dabei geht es ja, wie manche Gesundheitsämter beweisen, die bei einer Inzidenz von bis zu 250 noch Schritt halten, wie etwa der Chef des Dortmunder Gesundheitsamtes einem meiner Kollegen berichtete. Dazu hat er die Zahl der Mitarbeiter zeitweilig auf fast 400 vervierfacht und sich digital vernetzt, es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Wie Raketentechnik klingt das nicht.
Ebenfalls vergangene Woche wurde in Berlin kolportiert, beim Treffen der Kanzlerin mit den 16 Ministerpräsidenten sei der lamentable Zustand der Gesundheitsämter erstmals Thema gewesen. Dazu passt, dass die Kanzlerin hernach die Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gebeten habe, bei ihren Gesundheitsämtern im Wahlkreis zu erkunden, wie es denn vor Ort so laufe. Das klingt, als breche ein Trupp tollkühner Pioniere in nicht kartografierte Gewässer auf, zu den Menschen »draußen im Land«. Mutig, mutig, alle Achtung, möchte man ihnen zurufen. Aber eigentlich möchte man schreien.