
Die Lage am Morgen Auf der Suche nach dem Wahlkampfschlager

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
die CSU ringt mit ihrer Wahlkampfstrategie, Björn Höcke provoziert mit seiner demokratischen Zersetzungsstrategie, und die Antidopingstrategie bei den Olympischen Spielen könnte ins Leere laufen.
Bavaria first
Die CSU präsentiert heute ihr Programm zur Bundestagswahl im Rahmen einer Klausur des Parteivorstands. Auch wenn beide Schwesterparteien der Union ausweislich ihres Programms »Deutschland gemeinsam machen« wollen, hat die CSU wie immer noch ein zusätzliches Konzeptpapier erstellt. Früher hieß es »Bayernplan«, heute »Das CSU-Programm«, vermutlich klang die alte Version für den Beinahe-Kanzlerkandidaten Markus Söder einfach zu regional. Außerdem steht auf dem Titel: »Gut für Bayern. Gut für Deutschland.« Und das ist noch sehr bescheiden, wenn man bedenkt, dass es zum Beispiel beim Thema Klimaschutz doch um die Frage geht, was gut für die ganze Welt ist.
Meine Kollegin Anna Clauß reist an den Tegernsee, um über die CSU-Klausur zu berichten. Ihr Eindruck ist, dass Söder nach seinem Abblitzen bei der CDU wieder zurück im »Bavaria first«-Modus ist. Schließlich hat der bayerische Ministerpräsident gerade in seiner Regierungserklärung die bayerischen Klimaziele noch einmal verschärft, den Kohleausstieg will er jetzt bis 2030 möglich machen.

CSU-Strategen Alexander Dobrindt, Markus Söder, Markus Blume (v.l.n.r.)
Foto: Sven Hoppe / dpaEin echter Wahlkampfschlager fehlt der CSU aber noch. Bei früheren Bundestagswahlen sind die Bayern gut gefahren mit der Strategie, penetrant ein Thema zu besetzen, das alle CSUler tagein und tagaus, landauf und landab bis zur völligen Ermüdung aller Beteiligten gespielt haben: die »Ausländer-Maut«, das Betreuungsgeld, die Mütterrente – es musste ein Thema sein, bei dem sympathische Gruppen der deutschen Gesellschaft Geld bekommen, und sei es nur eine kleine, symbolische Summe. Hilfsweise sollten wenigstens die »Ausländer« zahlen, oder Kriminelle schärfer bestraft werden.
Aber wie lautet das Gewinnerthema dieses Jahr? Es ist ein komplizierter Wahlkampf, unberechenbar, unplanbar, weil völlig offen zu sein scheint, welches Anliegen die Deutschen im September in die Wahlkabinen treiben wird. Wird letztlich doch die Coronapandemie dominieren? Sie schien schon halbwegs besiegt, doch jetzt kehrt das Thema zurück, mit steigenden Fallzahlen, schleppenden Impfungen und einer drohenden vierten Welle. Heute dürfte die Europäische Arzneimittelbehörde EMA übrigens den Moderna-Impfstoff für die 12- bis 17-Jährigen zulassen. Oder könnte vielleicht doch das Thema steuerliche Entlastung dominieren, über das CDU und CSU sich gerade erst einige Reibereien geliefert haben?

Coronaimpfung einer 12-Jährigen
Foto:Oliver Berg / dpa
Oder hat die Flut alles geändert, und die Deutschen wählen danach, wer das beste Klimakonzept hat? Schließlich zeigt der neueste ARD-Deutschlandtrend, dass die übergroße Mehrheit der Deutschen weiterhin einen sehr großen (38 Prozent) bzw. großen (43 Prozent) Handlungsbedarf beim Klimaschutz sieht, und das gilt für die Alten wie die Jungen, Wessis wie Ossis. Heute ist übrigens auch wieder ein bundesweiter Protesttag von Fridays for Future.
Was also tut die CSU? Sie hat sich sicherheitshalber auf eine Mischung geeinigt: Ein ökologisch gefärbtes Geldgeschenk (= eine dynamische Pendlerpauschale gekoppelt an den CO₂-Preis), dazu ein bisschen Kriminalitätsbekämpfung (= höhere Strafen für Enkeltrick-Betrüger) und ein fundamentales gesellschaftliches Anliegen (= Kampf gegen Antisemitismus als Staatsziel in das Grundgesetz).
Thüringen last

Thomas Kemmerich (FDP) und Björn Höcke (AfD) nach der Ministerpräsidentenwahl von 2020
Foto:Martin Schutt/ dpa
Anders als vor vier Jahren spielt die AfD im Bundestagswahlkampf bisher keine dominierende Rolle. Anstelle des Wahlkampfs scheint die Rechtspartei vor allem beschäftigt zu sein mit dem Machtkampf zwischen dem Lager um den angeschlagenen Parteichef Jörg Meuthen und den Mitgliedern des rechtsextremen »Flügel«. Den gibt es zwar als Organisation innerhalb der Partei offiziell nicht mehr, aber seine Mitglieder machen noch immer schätzungsweise ein Drittel der AfD aus. 2017 konnten die Rechten noch auf der Welle der Flüchtlingskrise in den Bundestag schwimmen, aber dieses Jahr sind die großen Themen wie Flut, Klimawandel oder Corona jedenfalls keine AfD-Gewinnerthemen.
Trotzdem gibt es immer wieder Momente, in denen die AfD bundesweit Aufmerksamkeit bekommt, und heute wird einer dieser Tage sein. Dann wird der Landtag von Thüringen über das Misstrauensvotum entscheiden, das die AfD gegen Ministerpräsident Bodo Ramelow beantragt hat. Wie unser freier Mitarbeiter Martin Debes analysiert, wird Björn Höcke, der Vorsitzende dieses »erwiesen rechtsextremistischen« (O-Ton Verfassungsschutz) AfD-Landesverbands wieder versuchen, Chaos im Landtag zu stiften. Im Februar 2020 ist Höcke das schon einmal gelungen, als der FDP-Mann Thomas Kemmerich mit den AfD-Stimmen überraschend zum Ministerpräsidenten gewählt wurde . Nun stellt sich Höcke selbst zur Wahl.
Alle Blicke richten sich in dieser Lage auf die CDU Thüringen. Würde Höcke auch nur eine Stimme mehr erhalten, als seine Fraktion Mitglieder hat, läge der Verdacht nahe, dass sie von einem CDU-Mitglied kam. Und weil Mario Voigt, der CDU-Fraktionschef, diesen Worst Case offenbar nicht ganz ausschließen kann, hat die CDU-Fraktion beschlossen, einfach gar nicht abzustimmen. Sie will sich dem Votum geschlossen verweigern, auch wenn das bedeutet, dass die CDU dann auch nicht geschlossen gegen Höcke stimmen kann.
Der AfD reiche »die schiere Anwesenheit, um den Politikbetrieb in entscheidenden Momenten immer neu zu paralysieren«, schreibt Debes. Man kann sagen, dass Thüringen politisch kaputt ist. Es wird geführt von einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung, die am liebsten in Neuwahlen ginge, doch für einen Neuwahlantrag gibt es keine Mehrheit. Die Abgeordneten misstrauen einander, der parlamentarische Umgang ist verroht, sogar innerhalb der Koalition oder in den Fraktionen. »Nichts ist gut in der AfD im Moment«, sagte der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland einmal über seine eigene Partei. Jetzt muss man sagen, nichts ist gut in Thüringen – nicht zuletzt dank der AfD.

Mario Voigt, Thüringer CDU-Fraktionschef
Foto: Bodo Schackow/ dpaDa ist es fast nur eine Fußnote, dass die AfD gestern einen weiteren Erfolg feierte: Einer ihrer Kandidaten wurde als stellvertretender Laienrichter an den Verfassungsgerichtshof in Stuttgart gewählt, und das mit 20 Stimmen mehr, als AfD-Leute im Landtag sitzen. Nach allem, was man über den Mann liest, ist er nicht als rechter Hetzer bekannt. Wie der Tagesspiegel berichtet, hat der 66 Jahre alte Mitarbeiter einer AfD-Landtagsabgeordneten in einem Brief an die Abgeordneten für sich geworben. Er sei diplomierter Sozialwissenschaftler, hätte in leitender Funktion für Beratungsfirmen gearbeitet und kümmere sich ehrenamtlich um geistig behinderte und krebskranke Kinder.
Soll man einen Kandidaten ablehnen, nur weil er AfD-Kandidat ist? Nun muss man allerdings wissen, dass die AfD Baden-Württemberg kaum moderater als der Rest der Partei ist. Der »Flügel« ist stark im Südwesten, und hier sitzen einige der größten Höcke-Fans. AfD-Chef Jörg Meuthen distanzierte sich jüngst im ZDF-Sommerinterview gleich von mehreren seiner Parteifreunde dort. Und wer als AfD-Kandidat antritt, muss sich auch am Maßstab seiner Partei messen lassen, und sei er selbst ein friedlicher Typ. Zumal es nicht um ein Wald- und Wiesen-Gericht geht, sondern um eine Institution, die unter anderem über die Auslegung der Landesverfassung entscheidet.
Misstrauensvotum im Thüringer Landtag: Warum der AfD-Plan dieses Mal scheitern wird
Die Lücken von Olympia

Eine Barke trägt die olympischen Ringe durch die Bucht von Tokio
Foto: Sergei Bobylev / imago images/ITAR-TASSHeute werden die Olympischen Spiele in Tokio offiziell eröffnet, und bislang haben weniger die Athletinnen und Athleten Schlagzeilen gemacht, als die Zahl der Coronafälle im olympischen Dorf. Meine Kollegen Anne Armbrecht und Benjamin Knaack haben für heute einen Bericht über ein nicht weniger großes Problem der Spiele recherchiert: die Lücken im Antidopingsystem. Wegen der Pandemie ist das weltweite Testregime zeitweise auf der Strecke geblieben. Betrüger liefen kaum Gefahr, wegen der Nutzung verbotener Substanzen aufzufliegen. Nun warnen Athletenverbände: »Wir sollten nicht naiv sein.«
»Über mehrere Monate hinweg mussten die Kontrollaktivitäten auf ein Minimum reduziert werden«, sagte der Chef des Kölner Dopinglabors, Mario Thevis, »sodass ein Probenrückgang im Antidopinglabor in Köln von bis zu 95 Prozent der üblicherweise registrierten Kontrollen zu verzeichnen war.« Auch die Welt-Anti-Doping-Agentur schreibt: »Es besteht kein Zweifel, dass die Covid-19-Pandemie das globale Antidopingsystem beeinflusst hat, indem sie die Tests vorübergehend reduziert hat«. Aber man hätte stattdessen »andere Instrumente« genutzt, um die »Integrität des Antidopingsystems aufrechtzuerhalten«, wie etwa das Whistleblowerprogramm.
Doch allein an den deutschen Zahlen sieht man, wie das Prüfsystem 2020 ins Stocken geraten ist: Hatte es 2019 noch insgesamt 12.910 Kontrollen gegeben, mit insgesamt 17.498 Blut- und Urinproben, waren es im ersten Pandemiejahr 2020 nur noch insgesamt 9.572 Kontrollen mit 11.970 Proben. Ob es faire Spiele werden? Man würde es den sauberen Athletinnen und Athleten wünschen.
Gewinner des Tages…

Angela Merkel in der Sommerpressekonferenz. Nicht im Bild: Boris Reitschuster.
Foto: via www.imago-images.de / imago images/Political-Moments…ist Boris Reitschuster. Der Mann arbeitete lange für unseren Wettbewerber »Focus«, dann ging man aus unbekannten Gründen getrennte Wege, und der von Reitschuster scheint ihn in die Welt der Schwurbelei geführt zu haben, wo ein Coronaimpfstoff schon mal als tödliche Gefahr dargestellt wird, eine Coronamutation dagegen als eher ungefährlich.
Doch nun hat Reitschuster einen Sieg errungen, denn er saß gestern in Angela Merkels Sommerpressekonferenz und stellte eine für seine Verhältnisse beinahe rationale Frage nach den Widersprüchen oder »Rissen«, die sich angeblich zwischen Merkel und ihren Kabinettskollegen auftaten. Nachdem das Wort Riss in seinem Wortschwall zum dritten Mal aufgetaucht war, spöttelte Merkel: »Gibt es außer Rissen bei Ihnen überhaupt noch etwas Zusammenhängendes?« Reitschuster sah so richtig blamiert aus, erntete ein Hohngelächter der Kollegenschaft und in den sozialen Medien wurde Merkel gefeiert für die lässige Klatsche.
Aber Reitschuster konnte kaum etwas Besseres passieren, jetzt trägt er in seiner Community auch offiziell den Orden des Regierungskritikers. Der Angriff sei doch ein »Kompliment« für ihn, schrieb er später, und die so höhnisch lachenden Mainstream-Journalisten hätten mal wieder ihre »unjournalistische Nähe zur Regierung« bewiesen. Dummerweise stellte der Kollege nach Reitschuster eine geradezu liebedienerische Frage, nämlich ob Merkel sich eigentlich immer gefreut hätte auf ihre Auftritte in der Bundespressekonferenz. Ich gebe zu, ich habe auch über Merkels Spruch gelacht. Aber Reitschuster lacht zuletzt, und vielleicht auch am längsten.
Angela Merkels letzte Sommerpressekonferenz: Alles ist jetzt
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Trump über tödlichen Sturm auf US-Kapitol: »Es war übrigens auch eine liebevolle Menschenmenge«. In einem Audio-Mitschnitt lässt sich Donald Trump über den Angriff auf das US-Kapitol aus – und verharmlost die Attacke. Seine Partei eskaliert derweil den Streit über die Aufarbeitung.
Wochenbericht des RKI: Sieben-Tage-Inzidenz steigt besonders bei 15- bis 34-Jährigen. Die Delta-Variante dominiert ganz klar in Deutschland. Vor allem junge Menschen treiben die Inzidenz nach oben. Dafür sieht es in den Krankenhäusern entspannt aus. Der RKI-Wochenbericht im Überblick.
Bei ungeimpften Profis: NFL will Corona-infizierten Spielern das Gehalt streichen. In der Vorsaison wurden einige Spiele der Footballliga wegen Coronafällen verlegt. Jetzt will die NFL Teams mit Covid-Infektionen drakonisch bestrafen – es sei denn, die Spieler waren geimpft.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Melanie Amann