Debatte Wie viel Maggie Thatcher steckt in Angela Merkel?
London - Das Land steckt in Schwierigkeiten. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Wirtschaft steckt in einer tiefen Depression. Die Menschen im Land sind unzufrieden. Die meisten Bürger wissen, dass es Veränderungen geben muss. Aber wie - und welche?
Der amtierende Regierungschef ist sehr populär. Seiner Herausforderin traut man nicht so viel zu. Nach einem verlorenen Misstrauensvotum riskiert er Neuwahlen - ein Jahr früher als geplant.
Was so frappant an die Lage in Deutschland im Jahr 2005 erinnert, gilt auch für die späten siebziger Jahre in Großbritannien. Damals siegte die Konservative Margret Thatcher über den Labour-Premier James Callaghan.
Ein gutes Vierteljahrhundert nachdem die Briten sich für den harten Kurs Thatchers entschieden und sie zur ersten weiblichen Regierungschefin gewählt hatten, scheint sich in Deutschland Geschichte zu wiederholen. Angela Merkel steht vor ihrem Einzug in das Kanzleramt - obwohl Kanzler Schröder der populärere Kandidat ist.
Margaret Thatcher wird im Nachhinein immer als starke, fast diktatorische Figur gesehen. Doch das war sie nicht von Anfang an. Nach ihrer Wahl zur Führerin der Konservativen im Jahr 1975 war sie zunächst stark auf eine breite Zustimmung innerhalb der Partei angewiesen. Dies galt umso mehr im Mai 1979, als sie nach einem desaströsen Winter mit Streiks und schlechten Wirtschaftsdaten Premierministerin wurde - mit nur 43 Stimmen Vorsprung vor dem populären, onkelhaften Labourführer James Callaghan.
Harmonie am Anfang
Thatcher zog in die Downing Street ein mit einer entwaffnend milden Botschaft des Heiligen Franz von Assisi: "Wo Streit ist, da mögen wir Harmonie bringen, wo Irrtum ist, mögen wir Wahrheit bringen, wo Zweifel droht, mögen wir Glauben bringen, wo Verzweiflung quält, mögen wir Hoffnung bringen."
Erst nach einigen Jahre vorsichtigen Regierens und eines erfolgreichen Krieges um die Falkland-Inseln gegen Argentinien kam die wahre "Eiserne Lady" zum Vorschein. Plötzlich war sehr wenig von Harmonie zu spüren, dafür aber eine Menge Streit. Was Irrtum und Wahrheit betrifft, ist die Entscheidung noch nicht gefallen.
Als Thatcher an die Macht kam, war sie von mächtigen Männern umgeben, von denen die meisten sie nicht von vornherein unterstützten. Nur eine Handvoll Minister ihres Kabinetts konnten als rechte Hardliner bezeichnet werden, der Rest bestand aus gemäßigten früheren Unterstützern des europhilen Tory-Führers Edward Heath, der Großbritannien 1974 in die Europäische Gemeinschaft geführt hatte, und einigen adligen Landbesitzern. In Thatchers ersten Regierungsjahren hatte man das Gefühl, dass nicht nur die Opposition, sondern auch ein Teil ihrer eigenen Leute nur darauf warteten, sie möge einen entscheidenden Fehler begehen, der sie das Amt kostet. Daher regierte sie relativ vorsichtig.
Reformen wirkten schnell
Nichtsdestotrotz gibt es wohl kaum Zweifel daran, dass Thatcher immer schon radikale Veränderungen plante. Zunächst die Reduzierung des Haushaltsdefizits durch drakonische währungspolitische Maßnahmen, dann die Liberalisierung der Kapitalmärkte und die Eindämmung der Regulierungen. Zum Schluss senkte sie Einkommen- und Unternehmensteuern drastisch.
Die Reformen wirkten schnell. Die Inflation fiel rapide, aber gleichzeitig stiegen die Zinsen und die Arbeitslosigkeit. Die britische verarbeitende Industrie mühte sich schon seit den fünfziger Jahren, um im Wettkampf, vor allem mit Deutschland und Japan, zu bestehen.
Nun musste sie zusätzlich unter dem hohen Pfund und teuren Krediten leiden, nicht zu vergessen die ideologischen Attacken der konservativen Regierung auf die protektionistischen Mauern, die der Industrie für so lange Zeit Schutz geboten hatten und die Subventionen, die die geringe Produktivität ausgeglichen hatten. Ganze Regionen, vor allem der industriell geprägte Norden des Landes, wurden verwüstet, als Fabriken geschlossen und die Arbeiter entlassen wurden. 1982 waren mehr als drei Millionen Menschen ohne Arbeit, was einer Erwerbslosenquote von elf Prozent entsprach.
Dennoch unterscheiden sich die Krisen, in der sich Großbritannien in den späten Siebzigern befand und der sich Deutschland heute stellen muss. Als Thatcher an die Macht kam, bestanden die britischen Exporterfolge aus dem Verkauf von Schottischem Whisky und Teddybären von Harrod's. Im Deutschland des frühen 21. Jahrhunderts sieht die Sache anders aus. Deutsche Arbeit ist zwar teuer, aber auch fachmännisch und produktiv. Bei der Verarbeitung hat das Land nach wie vor beträchtlichen Erfolg, selbst in einem Markt mit globaler Konkurrenz. Die Welt ist nach wie vor bereit für deutsche Qualität zu zahlen.
Dennoch ist die Situation in Deutschland viel komplexer. Jetzt geht es um hohe Renten, hohe Zahlungen an Arbeitslose und ein relativ großzügiges Wohlfahrtssystem, bei gleichzeitig niedriger Geburtenrate. Es geht um ein System, das die alte Kohle- und Stahlindustrie im Ruhrgebiet zu lange subventioniert hat, so dass das Land nicht mit neuen Industrien auf den großen Knall vorbereitet war.
Drei Millionen verließen seit der Wende den Osten
Es geht um einen nach wie vor generösen Staat und um großzügige Solidarität mit der Ex-DDR, die zwar die Auswirkungen des Zusammenbruchs des real existierenden Sozialismus gemildert haben mag, als Langzeiteffekt jedoch große wirtschaftsschwache Gebiete in den neuen Ländern zurückgelassen hat. Besonders die kleinen Städte im Osten sind davon betroffen, hier gibt es wenig Hoffnung auf Beschäftigung.
Die "Eiserne Maggie" glaubte, dass man den Niedergang Großbritanniens umkehren könne. Sie sagte den Arbeitern, die ihre Jobs in den traditionellen Industriezweigen verloren hatten, dass das neue Dienstleistungsgewerbe ihre Rettung sein würde. Und ihre Minister, die wenige Jahre nach ihrem Dienstantritt nur noch aus loyalen Anhängern bestanden, sagten denen ohne Arbeit im Norden Englands, sie sollten sich gefälligst auf ihre Fahrräder schwingen und im Rest des Landes nach Jobs suchen.
Die "Eiserne Angie", wie Thatcher eine ausgebildete Wissenschaftlerin, kann den Ostdeutschen nicht einfach sagen, sie sollen im Westen nach Arbeit suchen. Immerhin haben dies schon fast drei Millionen Menschen seit der Wende getan. Genauso wenig kann sie den deutschen Wohlfahrtsstaat demontieren, der im Föderalen System ein wichtiger Bestandteil der Nachkriegsvereinbarungen zwischen Regierenden und Regierten war, als Schutz vor der Rückkehr von Chaos und Faschismus. Kurz gesagt: Angela Merkel hat vielleicht die gleiche Entschlossenheit wie Margaret Thatcher, aber ihre Aufgabe ist sehr viel schwieriger.
Die Deutschen sind nicht verzweifelt genug
Ende der Siebziger waren die Briten verzweifelt, sie waren bereit jede Medizin zu schlucken, die eine Genesung des "Englischen Patienten" versprach. Geht es den Deutschen heute genauso? Wohl kaum. Extrem hohe Arbeitslosigkeit findet sich zwar im Osten des Landes und in den alten Industrieregionen wie dem Ruhrgebiet. Viele Leute sorgen sich, aber es gibt kein Chaos. Während des britischen "Winter of Discontent" 1978/79 wurden Tote nicht begraben, die Müllabfuhr arbeitete nicht und der öffentliche Personenverkehr funktionierte nicht mehr. Es sah so aus, als würde die Zivilisation zusammenbrechen. Die britischen Wähler waren bereit, das Risiko von Thatchers furchterregender Vision für Großbritannien auf sich zu nehmen.
Möglicherweise sind die meisten Deutschen nicht verzweifelt genug, sogar jetzt noch nicht. Wenn man wie ich jedes Jahr eine gewisse Zeit durch die Bundesrepublik reist, fühlt man nicht die gleiche innere Bereitschaft zu einem Wechsel bei der deutschen Bevölkerung. Die meisten Deutschen sind immer noch zu wohlhabend, und der deutliche und anhaltende Erfolg einiger deutscher Wirtschaftsregionen mildert die Verzweiflung erheblich. Schon im Wahlkampf zeigte sich, dass Merkels Erfolg rapide nachlässt, wenn ihre Lösungen zu radikal, die Einschnitte zu tief wären.
Margaret Thatcher musste mit den gleichen Problemen kämpfen. 1981 war sie laut Meinungsumfragen die unbeliebteste Premierministerin aller Zeiten. Kommentatoren begannen, sie als gescheiterte Extremistin abzuschreiben. Zu Beginn des Jahres 1982 besserte sich die wirtschaftliche Lage ein wenig, die entscheidende Wende jedoch brachte der Krieg gegen Argentinien um die Falkland-Inseln. Ein großes Wagnis.
Der Falkland-Effekt
Dieser Militäreinsatz war, obwohl auf Messers Schneide, am Ende ein Erfolg. Die Stärkung des britischen Nationalstolzes hatte Anteil daran, dass Thatcher im Jahr 1983 mit großer Mehrheit wiedergewählt wurde. Alles Übrige danach - Privatisierungen, das Wirtschaftswunder der achtziger Jahre, der Sieg über den Kommunismus - ist der Stoff für Legenden und die Geschichte.
Natürlich plant Frau Merkel keine Kriege, genauso wenig wie das übrige deutsche Politik-Establishment. Deutschland hat keine entfernten Kolonien mehr, die unbefugt von ihren Nachbarn absorbiert werden und somit leicht einen Casus Belli schaffen könnten. Es erscheint deshalb wahrscheinlich, dass die deutsche "Eiserne Lady" gezwungen sein wird, die Samthandschuhe länger anzubehalten als Thatcher, wenn sie ihre Mission beenden möchte, Deutschlands Wohlstand und Erfolg im 21. Jahrhundert zu sichern.
Margaret Thatcher hat früher als die meisten Staatschefs der westlichen Welt begriffen, dass das Überleben der individuellen kapitalistischen Gesellschaften in einem globalen wirtschaftlichen Umfeld etwas radikal Neues erfordert: eine "permanente Revolution", erzwungen von der Wirtschaft. Die meisten ihrer öffentlichen Äußerungen weisen darauf hin, dass Angela Merkel diese Einschätzung teilt, das Problem ist nur: Die meisten Deutschen mögen keine Revolutionen. Und diejenigen, die es doch tun, wählen lieber die Linken als die CDU.
Ich bewundere Merkels Mut, frage mich aber, ob sie die politische Kraft hat, ihr Programm durchzusetzen. Wenn die Dinge sich am Sonntag so entwickeln, wie ich glaube, werden wir sehen, ob Angie mich eines Besseren belehrt. Ich wünsche ihr und Deutschland viel Glück. Die Bundesrepublik war mit ihrer sozialen Marktwirtschaft in den fünfziger und sechziger Jahren wegweisend. Vielleicht kann sie ja für das 21. Jahrhundert ein neues Rezept finden, eines, das wir genauso bewundern, wie wir es damals taten.
Der Historiker und britische Deutschland-Experte Frederick Taylor lebt in Cornwall. Zuletzt veröffentlichte er in Deutschland sein lebhaft diskutiertes Buch "Dresden - 13. Februar 1945"