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Markus Feldenkirchen

Der gesunde Menschenverstand Der Rest soll schweigen

Markus Feldenkirchen
Eine Kolumne von Markus Feldenkirchen
Eigentlich sollten wir gar nicht wissen, dass Angela Merkel das Wort Orgie in den Mund genommen hat.
aus DER SPIEGEL 18/2020
Angela Merkel

Angela Merkel

Foto: ODD ANDERSEN/ AFP

Denn eigentlich gebietet es der Anstand, dass Worte, die in vertraulicher Runde gesagt werden, in diesem Falle im CDU-Präsidium, diese Runde nicht verlassen. Ohne dieses Vertrauen in die Vertraulichkeit sind fruchtbare Diskussionen kaum möglich. Aber vielleicht ist die Motivation, etwas auszuplaudern, gerade dann besonders ausgeprägt, wenn Menschen das Gefühl haben, dass fruchtbare Diskussionen gar nicht erwünscht sind, sondern unterdrückt werden sollen.

Sie wolle keine "Öffnungsdiskussionsorgien", hat Angela Merkel während der Schaltkonferenz des CDU-Präsidiums also gesagt. Sie meinte damit Vorschläge und Forderungen, die gerade erst beschlossenen Lockerungen des Lockdowns noch weiter zu lockern. Oder sie meinte schlicht und einfach Armin Laschet, diesen Frechdachs. Der hatte es gewagt, nach der auch von der Kanzlerin gewollten Sonderregelung für Autohäuser eine Öffnung von Möbelhäusern ins Spiel zu bringen.

Ich muss gestehen: Unter einer Orgie hatte ich mir bislang immer etwas anderes vorgestellt. Ich dachte an Sauf- oder Fressgelage, auch an Gruppensex, aber weniger an Armin Laschet oder Möbelhäuser in Nordrhein-Westfalen. Vielleicht mangelt es mir da aber auch an der nötigen Fantasie. Dass Merkel ein anderes Verständnis von Orgie hat, mag daran liegen, dass sie aus Norddeutschland stammt und ich aus dem Rheinland. Sie ist Tochter eines evangelischen Pfarrers, mein Vater war nicht mal katholischer Pastor.

Schwieriger finde ich, dass die Kanzlerin ein chronisch distanziertes Verhältnis zu Diskussionen hat. Sie wollte keine Öffnungsorgien unterbinden, was epidemiologisch nachvollziehbar gewesen wäre. Nein, schon Debatten darüber, wie viel Öffnung zu rechtfertigen sei, passen ihr offenkundig nicht. Es ist bezeichnend, welches Maß an Diskussion sie bereits für orgiastisch hält und ab wann eine Debatte aus ihrer Sicht entgleitet. Es genügt schon, wenn jemand es wagt, von Möbelhäusern zu reden. Warum fand sie es richtig, dass Autohäuser als Erstes wieder öffnen dürfen? Hätten Möbelhäuser ihre Gnade gefunden, wenn ihre langjährige Vertraute Hildegard Müller heute nicht Chefin des Verbands der Automobilindustrie wäre, sondern Einrichtungslobbyistin? Es gibt etliche Ungereimtheiten in der Lockerungspolitik der Bundesregierung. Viele ließen sich wohl nachvollziehen. Aber dazu müsste man wenigstens versuchen, sie zu erklären. Angesichts der größten Einschränkung der Freiheit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist Mundfaulheit keine ideale Eigenschaft.

Ich dachte an Saufgelage, auch an Gruppensex, aber weniger an Armin Laschet.

Und für politische Debatten in Ausnahmezeiten ist es wenig hilfreich, wenn die Mächtigste im Lande Alternativvorschläge ins Reich des irgendwie Schmuddeligen, ja Perversen verweist. Sie kann sich gegen einzelne Vorschläge entscheiden. Aber sie sollte täglich, ja stündlich bereit sein, über sie zu diskutieren.

Um nicht in Orgienverdacht zu geraten, müsste eine Debatte für Angela Merkel wohl so aussehen: Entweder pflichten ihr alle Teilnehmer bei. Oder, noch besser: Sie schweigen.

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