Deutschtürke im Gefängnis in Ankara "Jeden Tag gegen eine Wand"

Seit dem gescheiterten Putsch sitzen in der Türkei mehrere Deutschtürken in Haft. Einer von ihnen ist ein Rentner aus Nordrhein-Westfalen. Seine Familie verliert die Hoffnung und gerät in Deutschland selbst in Bedrängnis.
Sincan-Gefängnis in Ankara

Sincan-Gefängnis in Ankara

Foto: ADEM ALTAN/ AFP

Neun Monate lang haben Osman und Muhammed Ince alles versucht. Sie haben an die deutsche Botschaft in Ankara geschrieben, deutsche Politiker um Hilfe gebeten. Sie haben sich an die türkischen Behörden gewandt.

Bis heute hat alles nichts geholfen. Ihr Vater, Ali Ince, sitzt weiter in einem Gefängnis in der Nähe der türkischen Hauptstadt. Er ist einer von sechs Deutschen, die im Zusammenhang mit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei inhaftiert wurden - vier deutschtürkische Staatsangehörige und zwei nur deutsche Staatsangehörige. Einer der beiden letzteren ist inzwischen frei gekommen, aber die türkischen Behörden haben eine Ausreisesperre gegen ihn verhängt.

Jetzt, da sich auch nach dem Sieg des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan beim Verfassungsreferendum nichts an der Lage ihres Vaters geändert hat, wollen die Ince-Brüder nicht länger stillhalten. Sie wollen den Fall ihres Vaters öffentlich - auf sein Leid und ihre eigenen Probleme aufmerksam machen.

"Da nn haben Sie meinen Vater mitgenommen"

An einem Frühlingstag sitzen Osman und Muhammed Ince in einem Café einer deutschen Großstadt, vor ihnen eine dicke Mappe. Darin: Unterlagen, Atteste und der Schwerbehindertenausweis ihres Vaters, die Korrespondenz mit der deutschen diplomatischen Vertretung in Ankara, Schreiben vom türkischen Anwalt.

Die Dokumente sollen nachzeichnen, was seit dem 22. Juli 2016 passiert ist: An jenem Tag, es ist der Freitag exakt eine Woche nach dem gescheiterten Putschversuch, reißt die türkische Innenpolitik die Familie Ince aus dem nordrhein-westfälischen Düren auseinander. An jenem 22. Juli wird Ali Ince in einem kleinen Ort bei Ankara während eines Besuchs in seiner Heimat festgenommen.

Ali Ince, Jahrgang 1958, kam vor 44 Jahren im Zuge der Familienzusammenführung nach Deutschland, er wurde Papiermacher, ging früh in Rente wegen mehrerer Krankheiten. Er hat einen deutschen und einen türkischen Pass. Das ist nun ein Problem.

Deutschtürke Ali Ince

Deutschtürke Ali Ince

Foto: privat

"Mein Vater saß bei Bekannten auf der Terrasse an der Straße, als mehrere Polizisten kamen", so schildert Osman Ince die Details der Festnahme. "Der Dorfpolizist hat auf meinen Vater gezeigt und gerufen: Da ist er: Ali Ince! Dann haben sie meinen Vater mitgenommen", sagt der 37-Jährige. Auf dem Weg zum Gefängnis habe die Polizei noch Halt gemacht in der Wohnung Ali Inces und private Sachen mitgenommen.

Alles, was Osman Ince erzählt, sind nicht Informationen aus erster Hand, sondern das, was er über den Anwalt seines Vaters aus der Türkei erfahren hat. Seit dem Tag der Festsetzung hat Osman Ince nicht mehr direkt mit seinem Vater sprechen können.

Die schwierige Lage der Doppelstaatler

Den deutschen Behörden ist der Fall bekannt, sie stehen im Kontakt mit den Angehörigen Ali Inces, mit seinen Söhnen Osman und Muhammed. Einzelheiten wollen sie nicht nennen, und der Fall offenbart das Problem, das von deutscher Seite vieles kaum zu überprüfen ist: Wie behandelt der Nato-Partner Türkei Inhaftierte? Wie rechtsstaatlich sind die Verfahren?

Zwar dürfen deutsche Konsularbeamte im Ausland inhaftierte Landsleute im Gefängnis besuchen und mit ihnen korrespondieren, sich über Behandlung und Umstände informieren. Diese Regel gilt aber nicht für Doppelstaatler wie Ali Ince. In diesen Fällen ist konsularische Hilfe nur eingeschränkt möglich, sie hängt vom Wohlwollen der türkischen Behörden ab.

Das zeigt die Geschichte des inhaftierten deutschtürkischen Journalisten Deniz Yücel - und auch Ali Ince macht nun diese Erfahrung. Bereits kurz nach der Verhaftung seines Vaters hat die Familie Ince aus Düren die deutsche Botschaft in Ankara kontaktiert. Immer noch aber konnten deutsche Diplomaten Ince nicht besuchen.

Deutschtürkischer Journalist Deniz Yücel

Deutschtürkischer Journalist Deniz Yücel

Die türkische Staatsanwaltschaft wirft Ince Unterstützung einer Terrororganisation vor, so steht es in einem Schreiben, das dem SPIEGEL vorliegt. In dem Papier wird die Verlängerung der Untersuchungshaft durch einen Richter bestätigt.

Ali Inces Söhne Osman und Muhammed sind sich sicher, dass ihr Vater in Haft ist, weil der türkische Staat ihm Verbindungen zum Netzwerk des islamischen Predigers Fetullah Gülen vorwirft. Weder Ali Ince noch sie selbst aber seien in irgendeiner Position im Gülen-Netzwerk tätig, so die Ince-Brüder. Sie hätten früher die "Zaman", die große, dem Gülen-Netzwerk nahestehende, inzwischen verbotene türkische Zeitung gelesen, seien Mitglieder in einem Bildungsverein in Düren. Mehr nicht.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan macht die Gülen-Bewegung für den Putschversuch verantwortlich. Beweise dafür gibt es nicht, und auch die deutschen Behörden zweifeln an der Täterschaft des Netzwerkes.

Zehntausende Regierungskritiker, darunter viele vermeintliche oder tatsächliche Gülen-Anhänger, wurden seit dem gescheiterten Putsch am 15. Juli in der Türkei verhaftet. Vielen von ihnen geht es wie Ali Ince - auch nach Monaten im Gefängnis gibt es keine formale Anklage. Das türkische Gesetz macht das möglich: Die Untersuchungshaft darf bis zu fünf Jahre dauern. "Mein Vater wird mit der Begründung festgehalten, er würde sonst Beweise zerstören", sagt Osman Ince.

Deutsche Parlamentarier drängen auf konsularischen Zugang

Inzwischen haben sich auch Dürener Bundestagsabgeordnete von CDU, SPD und Grünen in den Fall eingeschaltet, sie haben einen Brief an den türkischen Botschafter in Berlin sowie an Bundesaußenminister Sigmar Gabriel verfasst. "Wir erwarten von der türkischen Seite, dass das deutsche Konsulat Zugang zu Herrn Ince bekommt. Wir wollen erfahren, wie es diesem Menschen geht. Das muss nach einem dreiviertel Jahr in Haft möglich sein", sagt der CDU-Abgeordnete Thomas Rachel.

Proteste gegen Putschversuch am 16. Juli 2016

Proteste gegen Putschversuch am 16. Juli 2016

Foto: Tolga Bozoglu/ dpa

Bislang aber blieben die Bemühungen ohne durchschlagenden Erfolg. Nachdem sich seine gesundheitliche Situation immer weiter verschlechtert hatte, war Ali Ince im März für einige Wochen in ein Krankenhaus verlegt worden, in eine Abteilung für Häftlinge.

"Es ging ihm sehr schlecht, er hat stark abgenommen", sagt Osman Ince. "Er saß mit 13 anderen in einer Zelle, die für sechs bis acht Jugendliche angelegt war, er durfte nicht die ihm verschriebenen Medikamente bekommen, sondern bekam andere, auf die er zum Teil allergisch reagierte." Im April wurde der Rentner dann laut seiner Söhne wieder in ein reguläres Gefängnis verlegt, in die Sincan-Haftanstalt in Ankara, und wird von dort immer wieder zu Untersuchungen ins Krankenhaus gebracht.

"Unser gesamtes Leben hat sich verändert"

Seine Familie in Düren verliert die Hoffnung. "Wir haben alles versucht, jetzt wissen wir nicht mehr, was wir tun können", sagt Osman Ince. "Hinfahren können wir nicht, weil wir dann riskieren, selbst ins Gefängnis zu kommen. Und die Situation meines Vaters wird immer schwieriger." Mittlerweile habe dessen Anwalt selbst Angst, durch den Fall Probleme zu bekommen, er agiere zurückhaltend. "Es fühlt sich an, wie jeden Tag gegen eine Wand zu laufen", sagt Muhammed Ince.

Zur Sorge um den Vater kommen andere Probleme. Längst entladen sich die innenpolitischen Konflikte der Türkei auch in Deutschland - tatsächliche oder vermeintliche Gülen-Sympathisanten werden von Erdogan-Anhängern bespitzelt, bedroht, eingeschüchtert.

Für die Ince-Brüder hat das unmittelbare Konsequenzen. "Seit sich herumgesprochen hat, dass unser Vater in Haft ist, haben wir im Grunde keine Freunde mehr, unser gesamtes Leben hat sich verändert", sagt Osman Ince.

Drei Wochen nach der Festnahme habe er, so erzählt es der Dürener, seine Arbeit verloren. Sein Chef, auf Seiten Erdogans, habe ihm gesagt, er wolle keine Probleme durch ihn. "Man sieht uns nun als Terroristen", sagt Osman Ince. "Und selbst viele, die eher erdogankritisch sind, haben einfach Angst mit uns gesehen zu werden."

"Ich habe mein Leben bisher leer gelebt"

Dass ihre Situation nicht nur gefühlt schlecht ist, dass es tatsächlich eine handfeste Bedrohung gibt, hat Osman Ince vor wenigen Wochen erfahren: Der Dürener steht wie rund 300 andere Personen in Deutschland auf der Liste des türkischen Geheimdienstes MIT. "Die deutsche Kriminalpolizei hat sich bei mir gemeldet und gesagt, mir drohe Lebensgefahr, ich solle genau achten darauf, ob mir etwas an meinem Auto auffalle und dann sofort Bescheid sagen."

Mittlerweile, so erzählt es der 37-Jährige "gehen wir nur noch alle zusammen raus, am besten nur noch zur Arbeit oder zur Schule und dann schnell zurück. So etwas wie shoppen gehen, das funktioniert nicht mehr. Man kennt uns, man schaut auf uns." Auch seine Kinder, zwei Söhne, sechs und zehn Jahre alt, bekämen die Spannungen mit und litten darunter.

Die Inces in Düren vermuten sogar, dass die örtlichen Behörden in der Türkei die Informationen über ihren Vater aus Deutschland bekamen und deshalb die Festnahme erfolgte. Bevor er nämlich selbst davon erfahren habe, habe jemand aus Deutschland auf einer Facebookseite darüber geschrieben, sagt Osman Ince.

Natürlich habe er Angst. "Aber anders als den türkischen Behörden, vertrauen wir den deutschen." Eines habe er aus dem Fall seines Vaters und dem, was ihm seitdem in Deutschland passierte, gelernt. "Ich habe mein Leben bisher leer gelebt. Ich habe Demokratie und Menschenrechte viel zu selbstverständlich gesehen", sagt Osman Ince. "Ich bin dankbarer denn je und schätze mehr denn je, dass wir in Deutschland leben, dass es hier Rechtsstaatlichkeit gibt. Dass mir geholfen wird, wenn ich meinen Job verliere, egal welcher Religion ich angehöre, egal wie meine politische Einstellung ist."

Mitarbeit: Jörg Diehl
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