Die Fischer-Story Bedrohliche Ermittlungen für den Außenminister
Ein solcher Auftrieb ist selbst der medienerprobten Frankfurter Justiz fremd. Journalisten aus Inland und Übersee rangeln um die 81 Presseplätze, die für diesen Dienstag im Saal 165 C zu vergeben sind. Zu erleben ist immerhin ein leibhaftiger Außenminister, der in einem Mordprozess aussagt.
Aber so spektakulär Joschka Fischers Auftritt im Verfahren gegen seinen einstigen Kumpel, den Opec-Attentäter Hans-Joachim Klein, auch ist, seiner Politkarriere kann er nicht wirklich schaden.
Da ist es mit dem Inhalt von zehn Umzugskartons, die ein Haus weiter bei der Staatsanwaltschaft lagern, schon anders. Sie enthalten die Akten eines Anfang 1999 wieder aufgenommenen Strafverfahrens aus den wilden siebziger Jahren. Mit Macht wollen die Ermittler klären, wer am 10. Mai 1976 am Frankfurter Rossmarkt die Molotow-Cocktails schleuderte, von denen einer dem Polizeiobermeister Jürgen Weber lebensgefährliche Brandwunden zufügte. Versuchter Mord - als solcher wurde der Anschlag bisher bewertet - verjährt nicht.
Fischer steht nicht im Verdacht, einer der Werfer zu sein. Aber war er beim Krawall am Tag nach dem Selbstmord der Terroristin Ulrike Meinhof einer der Scharfmacher? "Der geistige Vater ist er schon irgendwo", beschuldigte ihn vergangene Woche Webers Anwalt Thomas Rothaug.
Die Angaben eines Szene-Insiders hatten zur Wiederaufnahme geführt. Der Mann ist offenbar sauer, dass die alten Kumpels sich jahrelang liebevoll um den im Untergrund lebenden Klein kümmerten, während er selbst sich bei Problemen mit der Justiz vernachlässigt fühlte. Die Spuren gelten den Ermittlern als viel versprechend. Die Staatsschutzabteilung der Frankfurter Polizei hat den Fall übernommen.
Von den entscheidenden Sekunden existiert sogar noch ein Video. Ein Polizei-Filmer hatte die Szene, als die Mollis flogen und einer in Webers Streifenwagen landete, auf Super-8-Film aufgenommen; später wurde das Beweisstück auf Video übertragen. Deutlich ist zu sehen, dass eine Frau den mörderischen Brandsatz schleudert, was damals als stärkstes Indiz gegen die Krankenschwester Gisela I. galt. Sie zählt jedoch nicht mehr zu den Verdächtigen.
"Ich habe es nicht gesehen"
Mit den heutigen Möglichkeiten der Technik wollen die Fahnder nun nach fast 20 Jahren Tatverdächtige, aber auch Zeugen identifizieren. In der aufgeheizten Atmosphäre der Jahre 1976/77 hatten sich die Ermittler auf die Person konzentriert, deren Brandsatz Webers Fahrzeug tatsächlich traf. Selbst das war den Spontis und Sympis zu viel. Ihr Wortführer, der Fischer-Freund Daniel Cohn-Bendit, drohte: "Frankfurt wird die größte Demonstration aller Zeiten erleben", sollte ein damals Tatverdächtiger nicht freikommen.
Jetzt droht allen, die an dem Anschlag beteiligt waren, ein Verfahren. Das gibt den Recherchen der Strafverfolger eine Wendung, die für Fischer gefährlich werden kann. Als verdächtig, die Brandsätze geworfen zu haben, gelten Ex-Mitglieder der Gruppe Revolutionärer Kampf (RK). Im RK, dem rund 500 Linksextremisten angehörten, war Fischer einer der führenden Köpfe. Wer die Täter bei den Krawallen am Frankfurter Rossmarkt waren, weiß der Außenminister aber nicht - da hat er sich festgelegt: "Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe es nicht gesehen."
Fischer geht noch weiter. Er habe, sagte er vorvergangene Woche im SPIEGEL-Gespräch, schon immer etwas gegen Molotow-Cocktails gehabt. Der Brandsatz als Waffe habe "nicht meiner Haltung und Überzeugung entsprochen".
Manche Genossen von einst erinnern sich anders. Im ARD-Magazin "Panorama" erklärte die ehemalige Hausbesetzerin Elisabeth Heidenreich, Fischer habe ausdrücklich den Einsatz von Mollis gefordert. Bei der bevorstehenden Räumung eines besetzten Hauses 1973 im Kettenhofweg habe der RK-Häuptling mit seiner Gruppe als eine Art "Verteidigungsavantgarde" (Heidenreich) Brandsätze werfen wollen. Erst nach vierstündiger Diskussion mit ihr hätten sich Fischer und seine Freunde überzeugen lassen, auf Mollis zu verzichten.
"Der ausgesprochen schlechte Stil der Bettina Röhl"
Bei den Kettenhofweg-Krawallen in den Tagen nach dem ersten Räumungsversuch mischte Fischer in schwarzer Kämpfermontur dann kräftig mit. Die jetzt entschlüsselte Fotoserie, die ihn zeigt, wie er auf einen Polizisten einschlägt, entstand am 7. April 1973.
Dass nach der Identifizierung Fischers und der Veröffentlichung der Fotos eine heftige Debatte um dessen Vergangenheit entbrannte, war der im Ausland lebenden Heidenreich während ihres TV-Gesprächs unbekannt. Ihr Anwalt Sven Krüger sagt, sie habe "das Interview in Unkenntnis der tagespolitischen Brisanz des Themas" gegeben und "fühle sich getäuscht". Offenbar war die Journalistin Bettina Röhl, die an dem "Panorama"-Beitrag mitgearbeitet hat, unter dem Vorwand zu Heidenreich gelangt, sie plane einen Film über Hausbesetzungen. Röhl, eine Tochter von Ulrike Meinhof, trägt seit Jahren belastendes Material gegen Fischer zusammen.
Heidenreich-Anwalt Krüger teilte den Verantwortlichen der Sendung per Fax mit, Röhl habe "ausgesprochen schlechten Stil gezeigt". Er beklagte "eine von der ,Panorama'-Redaktion bislang nicht gekannte Verletzung der journalistischen Sorgfalts- und Aufklärungspflichten". Das TV-Magazin sendete den Beitrag dennoch.
Fischer können solche Erinnerungen der Frankfurter Kampfgefährten nicht überraschen. Was er denn tun werde, wenn nun Zeugen aufträten, die behaupten, er habe sehr wohl damals zum Gebrauch von Molotow-Cocktails aufgerufen, fragte der SPIEGEL den Außenminister vorvergangene Woche. Seine Antwort: "Man würde mich nach 25 Jahren politisch mit Vorwürfen zu beschädigen versuchen, gegen die ich mich nur sehr schwer wehren kann."
Das kann sein. Aber der Fall Heidenreich zeigt auch: Ob aus Angst vor dem Sog der öffentlichen Debatte oder aus purer Loyalität - viele, die etwas sagen können, wollen lieber schweigen.
Eidesstattlich, aber nicht autorisiert?
Dafür spricht auch das Verhalten des ehemaligen RK-Mannes Udo Riechmann. Der hatte am 13. Mai 1998 eine eidesstattliche Versicherung für den Buchautor Christian Schmidt unterzeichnet, der Fischer in seinem Buch "Wir sind die Wahnsinnigen" erstmals mit dem Brandanschlag auf Weber in Verbindung brachte.
Riechmann beschuldigte Fischer, am Vorabend der Auseinandersetzungen im Stadtteilzentrum Bockenheim in der Sophienstraße für den flammenden Einsatz plädiert zu haben. In der eidesstattlichen Versicherung heißt es:
Der Wunsch, es dem "Bullenstaat" zu zeigen und "Rache für Ulrike" zu nehmen, war allgemein verbreitet. Es verdichtete sich der Wille der Versammelten, Molotow-Cocktails zu werfen. Einwände stießen auf immer stärkeren Unmut. Einer der wenigen Anwesenden mit etwas längerer politischer Erfahrung und der intellektuellen Fähigkeit, die Lage taktisch und strategisch einzuschätzen, war sicher Joschka Fischer. Solange die Kontroverse noch offen schien, hielt sich Fischer zurück. Doch schließlich machte er sich zum Wortführer der verbreiteten Stimmung, Molotow-Cocktails zu werfen. Als es in der Diskussion nur noch um das taktische Problem ging, wie die Molotow-Cocktails durch die vermuteten Kontrollen zu bringen seien, habe ich die Diskussion verlassen.
Fischer klagte nicht gegen diesen gravierenden Vorwurf. Als Riechmann in der vorvergangenen Woche annahm, dass auch der SPIEGEL von seiner eidesstattlichen Versicherung Gebrauch machen werde, untersagte er am späten Freitagabend ihre Verwendung. Es handele sich bei dem von ihm unterschriebenen Papier um eine "nicht autorisierte eidesstattliche Versicherung". Für die Frage, ob dies auch bedeute, er stehe nicht mehr zu seinen Angaben, war Riechmann nicht erreichbar.
Vergangene Woche äußerten sich Mitglieder der so genannten Putzgruppe, deren Erinnerungen Fischer ebenfalls nicht gefallen können. In der Krawall-Einheit, in der Fischer den Anführer spielte, übten Revoluzzer für den militanten Einsatz.
Im "Hamburger Abendblatt" berichtete ein in der Frankfurter Szene als "Buddy" bekannter Ex-Sponti, die Gruppe habe in Waldstücken und auf stillen Lichtungen des Taunus "gezielt und strategisch" Steinwürfe auf Polizisten geübt. Dabei sei es darauf angekommen, die Steine so zu werfen, dass sie vom Boden noch einmal hochsprangen und "direkt die ungeschützten Schienbeine der Beamten trafen".
Fischer hat dies gegenüber dem SPIEGEL bestritten. "Werfen Sie mal im Wald mit Steinen oder gar Flaschen. Würde ich nicht empfehlen."
Anstiftung oder Mittäterschaft kommen in Frage
Auch beim SPIEGEL meldete sich ein alter Fischer-Mitstreiter. Bereits im Oktober 1973, so der Ex-Kämpfer, hätten Mitglieder der Putzgruppe "in unmittelbarer Nähe" des "Schumann-Blocks", eines besetzten Häuserkomplexes im Frankfurter Westend, "Kisten mit einsatzbereiten Mollis deponiert". Das habe im harten Kern der Putzgruppe "jeder gewusst". Zur befürchteten Räumung sei es jedoch nicht gekommen, deshalb seien "die Dinger wieder weggeschafft" worden.
Ob Fischer später im Zusammenhang mit der Meinhof-Demonstration tatsächlich für Brandflaschen plädierte, ist nicht nur moralisch oder politisch von Belang. Auch strafrechtlich könnte es eng werden: Anstiftung oder sogar Mittäterschaft bei versuchtem Mord kommen in Frage.
Nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen am 10. Mai 1976 war Fischer nur kurz ins Visier der Strafverfolger geraten. Vier Tage nach dem Anschlag nahmen Spezialkräfte der Polizei ihn sowie 13 weitere Spontis und Kommunisten aus der Frankfurter Szene fest. Am Tag darauf kam er frei, ohne dass er vor den Haftrichter musste. Das Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde im Januar 1977 eingestellt.
Der damaligen Jurastudentin Christine Stiegeler erging es wie Fischer. Mit vorgehaltener Waffe wurde sie von den Beamten aus ihrer Wohngemeinschaft geholt und in eine Zelle gesperrt. Dort erfuhr sie, dass ihr eine Anklage wegen Mord oder Mordversuch drohe, weil sie einen Molli auf einen Polizisten geschleudert habe.
Stiegeler, heute Rechtsanwältin in Frankfurt, erinnert sich: "Ein Beamter bot mir Straffreiheit sowie finanzielle Hilfen beim Studium an, falls ich kooperativ wäre und der Polizei Hinweise auf die Szene liefern würde." Sie lehnte ab. Einige Stunden später kam sie frei.
Dass Spitzel in der linken Szene unterwegs waren, war allgemein bekannt. Auch bei den Frankfurter Molli-Ermittlungen wird die Frage, was V-Leute der Polizei oder des Verfassungsschutzes wussten, eine Rolle spielen. Der Hinweis, der zu Fischers Festnahme führte, soll von einem Insider aus der Szene gekommen sein.
Fischers Akte beim hessischen Verfassungsschutz ist weg: Anfang der neunziger Jahre wurde sie geschreddert, nachdem die Aufbewahrungsfrist abgelaufen war. Nach SPIEGEL-Informationen fand sich in ihr ohnehin nichts über den Brandanschlag - und schon gar nichts Belastendes.
Verschwundene Akten und verschlungene Pfade
Andere, erhaltene Verfassungsschutzdossiers wie das über die Gruppe Revolutionärer Kampf könnten noch interessant sein. Die Staatsschützer pflegten diese Akte, weil sie darin seit Jahren Informationen sammelten, wonach aus dem Umfeld des RK immer wieder besonders Radikale in die terroristischen Revolutionären Zellen überwechselten; wie etwa Fischers Ex-Genosse Klein, der 1975 bei dem Überfall auf die Opec-Minister in Wien dabei war.
Hessische Polizisten haben jetzt den Verdacht geäußert, von ihnen angelegte Fischer-Akten könnten Mitte der achtziger Jahre in der Staatskanzlei verschwunden sein. Der amtierende Ministerpräsident Roland Koch (CDU) will den Vorwurf "mit aller Sorgfalt" prüfen.
Verschlungene Pfade hat auch das Verfahren um den Anschlag auf den Polizisten Weber hinter sich. Federführend waren zunächst zwei Staatsanwälte aus der Abteilung Schwerpunktkriminalität, dann übernahm ein Kollege aus der politischen Abteilung. Dessen Anklageschrift gegen Gisela I. vom Februar 1977 führte jedoch nicht zu einem öffentlichen Prozess. Die Frankfurter Schwurgerichtskammer lehnte es ab, die Hauptverhandlung zu eröffnen, da die Beweise nicht ausreichten. Die Strafverfolger akzeptierten die Entscheidung. Im April 1983 ging das Konvolut als "geschichtlich wertvolles" Dokument an das hessische Kultusministerium und von dort weiter ins Wiesbadener Staatsarchiv. Dort ruhten die Akten, bis die Frankfurter Ermittler sie zurückforderten.
Der Zeitpunkt der Abgabe nach Wiesbaden, sagt der Frankfurter Oberstaatsanwalt Job Tilmann, lag "etwas vor Ablauf der Verwahrungsfrist". Über den Grund dafür könne er nichts Genaues sagen. Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang mit Fischers Politkarriere: Im März 1983, kurz vor der Aktenübergabe, wurde er erstmals in den Bundestag gewählt.
Der damals amtierende hessische Kultusminister Hans Krollmann (SPD) sagt, er könne sich an den Vorgang "nicht erinnern". Der Name Fischer hätte ihn zu der Zeit wohl "elektrisiert", denn die Grünen waren in Wiesbaden schon wichtige Gesprächspartner. Krollmann wundert sich aber, "warum die Akten so schnell ins hessische Staatsarchiv wechselten, normalerweise werden die bei der Staatsanwaltschaft länger aufbewahrt".
Der bei dem Anschlag schwer verbrannte Polizist Weber hat sich bislang vergeblich bemüht, Einsicht in die Akte zu nehmen. Weber leidet noch immer unter den Folgen, erzählte er erstmals dem "Tagesspiegel"-Reporter Jürgen Schreiber.
Auf ein persönliches Wort von Fischer, gar eine Entschuldigung, wartet Weber bislang vergebens. Der Bundesaußenminister zeigt da klare Kante: "Ich werde nicht dafür einstehen, was ich nicht getan habe."
Felix Kurz, Gunther Latsch, Georg Mascolo, Dietmar Pieper, Wilfried Voigt