Grüne im Superwahljahr Die nervöse Partei

Die Union herausfordern, danach mitregieren – womöglich gar direkt ins Kanzleramt: Für die Bundestagswahl im Herbst haben die Grünen große Ziele. Umso angespannter zuckt die Parteiführung bei jeder noch so kleinen Störung.
Eine Analyse von Valerie Höhne
Grüne Parteiführung Baerbock, Habeck: Alles unter Kontrolle?

Grüne Parteiführung Baerbock, Habeck: Alles unter Kontrolle?

Foto: Kay Nietfeld / dpa

Wenn die Grünen sich in der Coronakrise zu Wort meldeten, war lange Zeit schwer zu entscheiden, wer da sprach: Opposition oder Regierung. Der Ton war zurückhaltend bis staatstragend. Das ändert sich. Parteichefin Annalena Baerbock forderte eine »Pandemiewirtschaft«, monierte die Situation der Familien im Shutdown. Baerbocks Co-Vorsitzender Robert Habeck sprach sich für eine »Notimpfstoffwirtschaft« aus.

Dafür kann sich allerdings auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder erwärmen. Der CSU-Politiker bescheinigte den Grünen ohnehin jüngst, sie seien in der Coronakrise »ein verlässlicherer Partner als viele andere Parteien« gewesen.

Zu Beginn des Superwahljahrs liegen die Grünen selbst dann auf Linie einer Regierungspartei, wenn sie Opposition machen wollen. Die Frage ist, ob ihnen das hilft. Und ob sie an der Macht wirklich besser agieren würden.

Denn derzeit sind die Grünen auch viel mit sich selbst beschäftigt, sie wirken nervös. Wie wenig ausreicht, um sie in Aufregung zu versetzen, zeigte sich jüngst, als zwölf engagierte Basismitglieder einen Brief an den Bundesvorstand und die Presse schickten. Sie forderten die Parteispitze in dem Schreiben auf, keinen Kanzlerkandidaten und keine Kanzlerkandidatin aufzustellen.

Die Grünen haben mehr als 100.000 Mitglieder. Wenn ein Dutzend davon einen Brief schreibt, sollte das eigentlich kein großer Aufreger sein, Spitzengrüne hätten es an sich abperlen lassen können. Taten sie aber nicht.

Auf Twitter distanzierten sich Bundestagsabgeordnete, eine stellvertretende Vorsitzende, Büroleiter und einfache Mitglieder. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner antwortete den Verfassern umgehend, sein Schreiben wurde ebenfalls an die Presse lanciert.

Dadurch konnte der Eindruck entstehen, die Frage nach der Kanzlerkandidatur sei tatsächlich strittig. Das ist sie nicht – inhaltlich ist sie längst geklärt. Die Parteichefs Baerbock und Habeck werden der Partei zwischen Ostern und Pfingsten einen Vorschlag zur Kanzlerkandidatur machen. Und die Grünen werden ihn aller Voraussicht nach mit großer Mehrheit annehmen.

2021 soll für die Grünen das bedeutendste Jahr ihrer Geschichte werden

Bemerkenswert ist, wie erst die Reaktion führender Grüner dazu führte, dass mehrere Tage über den Brief gesprochen wurde. Es war eine Fehlleistung für eine Partei, deren oberstes Ziel es ist, während des Wahlkampfs Geschlossenheit und innerparteilichen Frieden auszustrahlen.

Allerdings ist die Nervosität nachvollziehbar. 2021 soll für die Grünen das bedeutendste Jahr der Parteigeschichte werden. Nach der Bundestagswahl am 26. September wollen sie Teil der Regierung sein, ihr Ziel ist es sogar, ins Kanzleramt einzuziehen.

Derzeit liegen sie in Umfragen allerdings deutlich hinter der Union. Um ihre Minimalchance zu wahren, dürfen sie keine Fehler machen. Deswegen liegt der Parteispitze so viel daran, die Kontrolle zu behalten.

Für einen kurzen Moment sah es aus, als lodere die alte Flügellogik wieder auf

Das gestaltet sich bisweilen aber schwierig. Zum Überdruss der Grünen gesellte sich zum angeblichen Konflikt über das Schreiben ein Streit über die nukleare Teilhabe Deutschlands. Also über die Frage, ob die USA im rheinland-pfälzischen Büchel weiterhin Atomwaffen stationieren und ob deutsche Kampfflugzeuge diese im Zweifelsfall abwerfen sollen.

Ellen Ueberschär, Teil des Vorstands der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, veröffentlichte im »Tagesspiegel « einen Gastbeitrag. Darin bezeichnete sie die Nato als »Glutkern des transatlantischen Verhältnisses« und sprach sich für die nukleare Teilhabe Deutschlands aus.

In der Partei ist das Militärbündnis traditionell umstritten, für Teile des linken Flügels war Ueberschärs Text ein Affront. Ex-Umweltminister Jürgen Trittin sagte der »taz« , es sei ihm »schleierhaft«, was »an diesem neokonservativen Aufschlag grünennah sein soll«. Andere Parteilinke zogen nach. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Agnieszka Brugger sagte der »Süddeutschen Zeitung «, sie sei »sehr irritiert«. Das entspreche nicht dem Grundsatzprogramm der Partei.

Für einen kurzen Moment sah es aus, als lodere die alte Flügellogik der Grünen wieder auf: linker Flügel gegen die pragmatischeren Realos.

Baerbock beruhigt die Partei – aber muss sie das?

Nach Angaben grüner Funktionäre spielte der Vorfall in der Fraktionssitzung am vergangenen Dienstag aber nur noch kurz eine Rolle.

Trotzdem fühlte sich Parteichefin Baerbock, selbst Reala, bei der außenpolitischen Jahrestagung der Böll-Stiftung offenbar bemüßigt, noch einmal »sehr, sehr deutlich als Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen« das vor Kurzem beschlossene Grundsatzprogramm der Partei zu zitieren: »Unser Anspruch ist nichts Geringeres als eine atomwaffenfreie Welt«, sagte sie. »Dazu gehört auch Deutschland frei von Atomwaffen und damit ein zügiges Ende der nuklearen Teilhabe.« Ihre Worte sollten wohl der Beruhigung dienen.

Der Konflikt könnte ein erstes Zeichen für einen größeren Streit sein, an dem die Parteispitze im Superwahljahr kein Interesse haben kann. Im von Baerbock zitierten Grundsatzprogramm findet sich im Vergleich zu früheren Programmen durchaus eine Aufweichung grüner Positionen:

  • Im Programm für die Bundestagswahl 2017 hieß es unmissverständlich: »Wir Grüne fordern den Abzug der letzten Atomwaffen aus Büchel und die endgültige Aufgabe der völkerrechtswidrigen ›nuklearen Teilhabe‹.«

  • Im Grundsatzprogramm der Partei vom vergangenen November steht, »gemeinsam mit den internationalen und europäischen Partnern« müsse »am Ziel eines atomwaffenfreien Europas gearbeitet werden«.

Die Tendenz ist eindeutig: Leise schaffen sich die Grünen die Grundlage dafür, auch im Verteidigungsbereich mehr Verantwortung zu übernehmen, ohne mit Farbbeuteln von der Basis beworfen zu werden, wie es dem damaligen Außenminister Joschka Fischer 1999 auf dem Parteitag in Bielefeld passierte. Damals ging es um die deutsche Beteiligung am Nato-Einsatz im Kosovokrieg.

Grüne öffnen sich auch programmatisch

Nicht nur in der Verteidigungspolitik weichen die Grünen alte Standpunkte auf. Sie haben ihre Position zu grüner Gentechnik umformuliert, im Grundsatzprogramm findet sich ein klares Bekenntnis zur Marktwirtschaft.

Während die Grünen im politischen Alltag schon lange regierungsfähig sind, schlugen sich in ihren Programmen oft die Positionen des radikaleren Teils der Basis nieder. Das ändert sich, Habeck und Baerbock wollen zur rhetorischen Neuausrichtung die programmatische gleich mitliefern.

Denn die Grünen haben mit radikalen Forderungen so schlechte Erfahrungen gemacht wie kaum eine andere Partei. Unvergessen ist das Veggie-Day-Fiasko. Einen Tag in der Woche sollten Kantinen vegetarisches Essen anbieten – diese alte Grünenforderung schaffte es 2013 ins Programm für die Bundestagswahl. Es war nicht der einzige Fehler im Wahlkampf, aber die Grünen glauben bis heute, dass sie auch wegen des Veggie-Days mit 8,4 Prozent der Stimmen damals weit hinter den Erwartungen zurückblieben.

Baerbock und Habeck dürften vorsichtig genug sein, um zu verhindern, dass etwas Vergleichbares beim Wahlprogramm 2021 geschieht. Doch es ist offen, ob die Führung der Grünen jede inhaltliche Veränderung der Parteilinie verteidigen muss. Schließlich trägt ein großer Teil der Basis die neue Ausrichtung mit. Unvorstellbar etwa, dass ein Koalitionsvertrag mit den Grünen in diesem Jahr allein an Atomraketen in Büchel scheitern sollte, selbst der bisweilen kritische linke Flügel will schließlich regieren. Da könnte die Partei ein wenig mehr Gelassenheit gut vertragen.

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