Grüne vor der Hessenwahl Links, Mitte, ach egal

Die Grünen waren mal die Partei des Dagegenseins, dann waren sie Projektpartei, jetzt wollen sie die Mitte besetzen. Aber was heißt das?
Tarek Al-Wazir und Annalena Baerbock

Tarek Al-Wazir und Annalena Baerbock

Foto: KAMIL ZIHNIOGLU/EPA-EFE/REX/Shutterstock

Joschka Fischer, zu dem die Grünen ein ambivalentes Verhältnis pflegen, sagte einst auf die Frage, ob er noch ein Linker sei: "Ja, ich bitte Sie, aber natürlich! Und ich kann Ihnen auch genau sagen, wie ich links definiere: die Überzeugung, an einem egalitären Gesellschaftsbild festzuhalten."

Diese Natürlichkeit ist den Grünen in den vergangenen Jahren abhandengekommen. "Ich verstehe uns nicht als links im Sinne der Linkspartei", sagte Parteichef Robert Habeck in einem Interview mit der "Zeit" . Auf die Frage, ob die Grünen eine linke oder eine bürgerliche Partei seien, sagte Habeck im Gespräch mit dem SPIEGEL , er sehe zwischen links und bürgerlich keinen Widerspruch. In Bayern habe man bürgerliche Tugenden an den Tag gelegt, die viele bei der CSU vermisst hätten. Freundlichkeit, Zuversicht. Und sei zweitstärkste Kraft im neuen Landtag geworden.

Cem Özdemir, Ex-Parteichef aus Baden-Württemberg, wohnhaft im grünen Berlin-Kreuzberg, sagte, er habe sich sehr über den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder geärgert, weil er die Grünen nicht als bürgerliche Kraft habe sehen wollen. Links und rechts will er nicht mehr sehen, er spricht stattdessen von "Gesäßgeografie".

"Vernunft gestaltet geiler"

Wo also wollen sich die Grünen verorten? Im SPIEGEL stand vor Kurzem, die Grünen seien eine große Projektionsfläche . Man könnte auch sagen, die Grünen erinnerten momentan ein bisschen an eine Wünsch-dir-was-Veranstaltung. Konservativ? Kein Problem. Links? Auch nicht. Die Grünen können alles bedienen.

Nach Bayern wählt nun Hessen. Der grüne Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir ist ideologisch nicht festgefahren. Grün, ja, aber bitte mit viel Pragmatismus. So hat er sich 2015 für das Freihandelsabkommen TTIP ausgesprochen - für die Grünen gerade mit Blick auf ökologische Themen eigentlich ein Unding. Nun ist sein Wahlspruch "Vernunft gestaltet geiler".

Mit TTIP-Vorstößen muss man als Grüner eigentlich aufpassen, denn was die Partei eint, ist die Ökologie. Viele, die dem regierungsfreudigen Realo-Flügel angehören, sind in ökologischen Fragen radikaler als die Linken in der Partei.

Doch selbst die Frage nach Dieselfahrverboten wird von Al-Wazir nicht eindeutig beantwortet. Er sagte jüngst, sein Ziel seien nicht Fahrverbote, sondern saubere Luft. Das kann alles oder nichts heißen.

Den Wähler aber scheint das nicht weiter zu stören. Al-Wazir ist der beliebteste Politiker im Bundesland, nach neuesten Umfragen könnte seine Partei gar die SPD als zweitstärkste Kraft ablösen.

Die Bundesvorsitzende Annalena Baerbock sieht keinen Widerspruch in Al-Wazirs Position: "Es ist unser Ziel, Innenstädte von Staus und Abgasen zu befreien. Dafür brauchen wir eine grundsätzliche Wende in der Verkehrspolitik. Gesamtkonzepte und die nötige Infrastruktur müssen her - Radwege, Busse, Straßenbahnen und günstige Preise. Nur so können wir in den Innenstädten Mobilität für alle sicherstellen, perspektivisch ohne Autos. Dann wäre viel gewonnen", sagte sie dem SPIEGEL.

Sie wollen die SPD ablösen

Das geflügelte Wort der Grünen dieser Tage ist die linke Mitte. Die wollen sie besetzen, vor allem die SPD als noch immer führende Kraft ablösen. Sie profitieren von der Schwäche der SPD, wildern in SPD-nahen Kreisen.

Doch vor allem in den Ländern wollen sie auch der Union Wähler abwerben. In Bayern kamen von der CSU laut Infratest dimap immerhin 180.000 Wähler, relativ gesehen machten das 6,6 Prozent der vorherigen Unionswähler aus. Für die Grünen ist das ein großer Erfolg, sie sind stolz darauf.

Erst vor Kurzem hat der grüne baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann ein Buch geschrieben. Titel: "Worauf wir uns verlassen wollen", Untertitel: "Für eine neue Idee des Konservativen". Kretschmann ist im Schützenverein, im Kirchenchor. Zukunft brauche Herkunft, glaubt er.

Die Grünen-Chefin Baerbock will diese Vielfalt kultivieren: "Wenn wir den vermeintlichen Widerspruch zwischen radikal und staatstragend als Chance begreifen und nicht als Schwäche, dann ist das hier wirklich erst der Anfang", sagte Baerbock schon Anfang Januar in ihrer Bewerbungsrede.

Positionen links der Mitte - doch rhetorisch sind sie weich

Die grünen Positionen liegen meist links der Mitte, in der Flüchtlingspolitik sind sie liberal, die Partei ist für Europa und den schnellen Kohleausstieg. Das und ihre Wählerschaft macht sie zum Gegenpol der AfD.

Trotzdem bemühen sich die Grünen auffällig um konservative Wähler. In Bayern betonten sie zuletzt häufig, wie viele Stimmen sie von der CSU gewinnen konnten. Sie versuchen in neue Milieus vorzudringen. Die größte Herausforderung für sie im nächsten Jahr werden die Landtagswahlen in Ostdeutschland sein. In manchen Umfragen sind sie nur knapp über fünf Prozent. Das passt nicht zu einer führenden Kraft der (linken) Mitte, deswegen müssen sie neue Gruppen erschließen.

Das kann gefährlich sein. Denn eine Verbreiterung der Wählerschicht bedeutet auch immer eine Verbreiterung der Meinungen, Positionen, Anliegen. In einer Partei, die so ideologisch geprägt ist, wie die Grünen es sind, kann diese Strategie missglücken.

Man überlege nur, was den Volksparteien passiert ist: Der SPD wird Unschärfe und Flexibilität vorgeworfen, der CDU, kein klar konservatives Profil mehr zu haben. Das könnte auch das Schicksal der Grünen werden. Ihr Linkssein sprechen sie sich schon jetzt beinah selbst ab.

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