Sabine Rennefanz

Die Ostdeutschen und die Demokratie Schein und Sein

Sabine Rennefanz
Eine Kolumne von Sabine Rennefanz
Einer neuen Studie zufolge meint fast die Hälfte der Ostdeutschen, sie lebten in einer »Scheindemokratie«. Das hat mit der unverarbeiteten Diktaturerfahrung zu tun – aber auch mit westlicher Bevormundung.
Gegner der Coronamaßnahmen mit Deutschlandfahne, Leipzig, 6. November 2021

Gegner der Coronamaßnahmen mit Deutschlandfahne, Leipzig, 6. November 2021

Foto: Sebastian Willnow / dpa

Kürzlich machte eine neue Umfrage Schlagzeilen: »Fast jeder dritte Deutsche glaubt, in einer ›Scheindemokratie‹ zu leben«, lautete der Titel. Das war das Ergebnis einer repräsentativen bundesweiten Allensbach-Befragung im Auftrag des SWR.

Da stand auch das, was man als diktatursozialisierte und debattengeprüfte Ostdeutsche ahnte: Der Unterschied zwischen Ost und West ist besonders groß. Während 28 Prozent der Westdeutschen der Ansicht seien, in einer »Scheindemokratie« zu leben, stimmen dem sogar 45 Prozent der Ostdeutschen zu. »Der Schein und das Sein«, twitterte der ostdeutsche Soziologe Steffen Mau. Es gibt ein Gedicht von Wilhelm Busch mit dem gleichen Titel:

»Wie wolltest du dich unterwinden/
Kurzweg die Menschen zu ergründen/
Du kennst sie nur von außenwärts/
Du siehst nur die Weste/
Nicht das Herz.«

Er schrieb das vor etwa 150 Jahren. Die Demokratie mit Werten wie freien Wahlen, Meinungspluralismus und Gleichberechtigung ist für fast jeden zweiten Ostdeutschen also offenbar nur die Verpackung, unter der Weste, wie Busch sagen würde, findet man ein dunkles Herz, eine Diktatur oder eine Oligarchie.

Die Umfrage scheint das allgemeine Gefühl, bestätigt durch lange Diskussionen über diktatursozialisierte Ostbürgers, zu bestätigen: Ost und West driften auseinander, der Osten ist nicht zu retten, klebt nach zwei Jahren Pandemie immer fester in den Fängen von »Querdenkern« und AfD.

Mir fiel ein, dass ich kürzlich einen Auszug aus einem Interview mit der ostdeutschen Journalistin Melanie Stein las. Sie sagte, es sei für viele junge Menschen wie ein Outing, sich als Ostdeutsche erkennen zu geben. Sie erzählt von der Frau, die ihr auf Instagram schreibt, dass sie sich eher als lesbisch zu erkennen gibt denn als Ostdeutsche. Oder von einer Managerin, die sagt, sie müsse erst ihre Familie fragen, ob sie es wagen darf, sich erkennen zu geben. Ich kann das verstehen, wenn man in einem Umfeld arbeitet, in dem es sonst kaum Ostdeutsche gibt und wenn man sich ständig rechtfertigen muss. Für ostdeutsche Demokratiefeinde zum Beispiel, die die Diktatur nicht abschütteln können.

Doch was ist eigentlich eine Scheindemokratie? Das Wort ist älter als die DDR. Der berühmte Soziologe Max Weber benutzte den Begriff schon 1917 für eine Analyse der Russischen Revolution. Von dem Kommunisten und späteren Staats- und Regierungschefs der DDR, Walter Ulbricht, ist aus den frühen Tagen der Gründung des zweiten deutschen Staates der Satz überliefert: »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben 

Wenn man sich die Umfrage von Allensbach genauer anschaut, dann wird es komplizierter. Und weniger düster.

In der Studie wurde untersucht, wie stark politisch radikales Denken und die Neigung zu Verschwörungstheorien ausgeprägt ist. Eintausend Menschen ab 16 Jahren wurden in den ersten zwei Februarwochen befragt, vor dem Ukrainekrieg.

Um das Demokratievertrauen abzufragen, wurden den Befragten 26 Thesen vorgelegt, von eher linken Positionen wie »Kapitalismus bedeutet Ausbeutung« über liberale Aussagen wie »Nichts schafft mehr Wohlstand als eine funktionierende Marktwirtschaft« bis zu rechten Meinungen wie »Wenn wir nicht aufpassen, wird Deutschland ein islamisches Land«. Eine der Thesen lautete: »Wir leben nur scheinbar in einer Demokratie. Tatsächlich haben die Bürger nichts zu sagen.« 31 Prozent bundesweit stimmten dem zu. In der Berichterstattung wurde daraus: Fast jeder dritte Deutsche glaubt, in einer Scheindemokratie zu leben. Die Lücke zwischen Ost und West war bei dieser Frage wie erwähnt besonders groß. Woran liegt das? Und wird die Lücke – coronakrisenbedingt – größer?

Anruf bei Studienleiter Thomas Petersen von Allensbach. Er führt seit vielen Jahren Befragungen zu politischen Einstellungen in Deutschland durch. Nimmt die Zahl derjenigen, die der Demokratie misstrauen oder sie ablehnen, in Ostdeutschland zu? Das könne er nicht so bestätigen, sagt Petersen. Dass es eine andere Perspektive auf die Demokratie und das Verhältnis zwischen Staat und Bürger zwischen Ost und West gebe, sei nichts Neues. In den Neunzigerjahren seien die Unterschiede in den Haltungen sogar noch wesentlich gravierender gewesen, inzwischen würden sich Ost und West annähern. In den Umfrageergebnissen zeigen sich seiner Meinung nach die langfristigen Nachwirkungen der DDR-Diktatur, die man auch noch einige Jahre weiter sehen werde. Was man in der Jugend an Werten aufgenommen habe, präge das ganze Leben lang. »Demokratie muss über Jahrzehnte eingeübt werden. Das hat in Westdeutschland nach dem Krieg 1945 auch 50 Jahre gedauert«, sagt Petersen.

Dieser Vergleich ist eine öfter formulierte Sicht, die nicht falsch ist, die aber doch nur einen Teil des Problems beschreibt. Denn die Ostdeutschen haben ja eine eigene Geschichte, sie sind nicht nur die Nachzügler der westdeutschen Brüder und Schwestern.

1945 ist nicht gleich 1989. Der Systemwechsel 1989 wurde nicht militärisch erzwungen, sondern friedlich und mit demokratischen Mitteln von vielen DDR-Bürger erkämpft. In der Zeit bis zur Wiedervereinigung entstanden viele neue Formen der Bürgerbeteiligung, es wurden Zeitungen gegründet, Bürgerkomitees, Runde Tische. Dann kam die Wiedervereinigung, die Zeit der Experimente endete, die Bürgerrechtler spielten bald keine große Rolle mehr, von ihnen gingen kaum noch Impulse aus. Bei vielen Bürgern setzte sich das Gefühl fest, nur noch als Konsument gebraucht zu sein. Als Konsument der westlichen Waren, der Hilfsgelder und der Parteien, in denen Ostdeutsche kaum eine Rolle spielten. Rechtsextremismus breitete sich aus, wurde ignoriert, sollte sich festsetzen. Zu den Parteien gibt es bis heute eine große Distanz. Auch in Westdeutschland haben inzwischen viele die großen Volksparteien verlassen. Die Ostler sind gar nicht erst eingetreten.

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, erklärt das auch mit der Wendeerfahrung: »Für viele Ostdeutsche ist 1989 die gelernte politische Erfahrung: Veränderung durchs Auf-die-Straße-Gehen. Aber in eine Partei einzutreten, im Stadtrat oder im Gemeinderat zu arbeiten, tatsächlich etwas mit verändern zu können, das haben viele nicht erlebt«, sagte er dem »Tagesspiegel« .

Und selbst wenn sie sich engagieren, treffen sie 30 Jahre nach der Wiedervereinigung auf eine westdeutsche Übermacht. Denn viele westdeutsche Abgeordnete nutzen die ostdeutschen Wahlkreise als Sprungbrett, schreibt der Soziologe Denis Huschka in einem Beitrag für die »Berliner Zeitung«. Jeder fünfte »ostdeutsche« Abgeordnete sei nach seinen Untersuchungen in Wahrheit ein zugezogener Westdeutscher mit einem Wahlkreis im Osten. In Brandenburg sogar jeder dritte. Huschka kritisiert, dass die vergleichsweise schwächeren, erst seit 1989 gegründeten ostdeutschen Orts- und Landesverbände in einigen Fällen als Mandatsbeschaffungsinstitution für »Westimporte« missbraucht wurden und werden. »Die anfangs sicher sinnvolle organisatorische, finanzielle und personelle westdeutsche Hilfe für die ostdeutschen Verbände hat ein Eigenleben entwickelt 

So kann man auch die Zustimmung zur Aussage: »Wir leben nur scheinbar in einer Demokratie. Tatsächlich haben die Bürger nichts zu sagen« auch als eine drastisch formulierte Kritik an der Parteiendemokratie verstehen, die oft als westdeutsche Übermacht wahrgenommen wird. Man kann sie als Wunsch nach mehr Möglichkeiten zum Gestalten, mehr basisdemokratische Elementen verstehen. Das wäre kein Grund zum Resignieren, sondern ein Arbeitsauftrag.

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