
Soziale Pflichtzeit Dienen – igitt!


THW-Mitarbeiter in Rostock (Archivbild)
Foto: Danny Gohlke / picture alliance/dpaWer wissen will, warum soziale Berufe, warum »Kümmern« so wenig geachtet wird, der sollte die Debatte über die Dienstpflicht verfolgen. Dienen – schon das Wort wirkt wie ein Fossil aus einer anderen Zeit, das man am besten ins Museum stecken möchte. Wahrscheinlich hat der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier es deshalb nicht benutzt, sondern von einer »sozialen Pflichtzeit« gesprochen.
Er hatte – ganz vorsichtig – die Frage in den Raum gestellt, ob es dem Land nicht guttun würde, wenn Frauen und Männer sich für eine gewisse Zeit in den Dienst der Gesellschaft stellten. Sie könnten sich sozial oder ökologisch engagieren oder auch bei der Bundeswehr. Neu ist die Idee nicht, 2018 hatte sie die damalige CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer als »Dienstpflicht« ins Gespräch gebracht. Bei Steinmeier geht es um mehr, es geht um gesellschaftlichen Zusammenhalt, um Miteinander, letztlich um die Frage nach einem guten Leben.
Der Vorschlag sei »absurd«, »ungerecht«, »eine Schnapsidee«. Es gebe längst schon verschiedenste Freiwilligendienste, lautet ein anderer Einwand. Aber auch all jene, die sonst nach mehr Aufmerksamkeit für die Carearbeit rufen, wehren eine Dienstpflicht ab, etwa die Gewerkschaft Ver.di oder der Paritätische Wohlfahrtsverband . Grüne und FDP sprachen im Gleichklang von einer Freiheitseinschränkung. Da sieht man, was 40 Jahre Hyperindividualismus und der »Jeder ist seines Glückes Schmied«-Neoliberalismus bewirkt haben. Vielleicht hatte Margaret Thatcher mit ihrem berühmten Satz doch recht: There is no such thing as society.
Um die Debatte zu beenden, gab es Ablenkungsmanöver. Wegen der psychischen Belastungen aus der Coronazeit und der hohen Mieten könnten die Jugendlichen nicht weiter belastet werden, hieß es bei einigen Grünen . Wow. Zwei Jahren lang waren den meisten Politikern in diesem Land – auch den Grünen – die Kinder und Jugendlichen komplett egal. Und jetzt werden die psychischen Leiden der Jugendlichen benutzen, um ein paar Punkte gegen den Bundespräsidenten zu machen? Geht gar nicht.
Man kann sich um bessere Schulen, mehr Lehrkräfte und mehr Therapieplätze bemühen und trotzdem für eine Dienstpflicht sein. Nach meinem aktuellen Stand wird allerdings weder das eine noch das andere getan.
Es hat sich offenbar in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel geändert, dass das Engagement im sozialen oder ökologischen Bereich von vielen als »Strafe« angesehen wird. Oder gar als »Beschäftigungstherapie«, wie Justizminister Buschmann (FDP) meinte.
Seltsam auch, wie einerseits die Opferbereitschaft der Ukrainerinnen und Ukrainer bewundert wird, während man selbst jegliche Einschnitte in das hiesige Leben ablehnt. Dabei wäre eine Auszeit, ob nun im sozialen, ökologischen oder militärischen Bereich ein Gewinn für alle, wenn sie auskömmlich finanziert und als Ausbildung anerkannt würde. Es geht um einen relativ kurzen Zeitraum, weniger als ein Jahr, sechs Monate vielleicht, also nicht viel, wenn man bedenkt, dass die Lebenserwartung junger Menschen, die heute geboren werden, etwa 80 Jahre beträgt. Diese Vorstellung, dass sich das ganze Leben nur um den Job dreht, wollten die Millennials und Generation Z doch eh grad ablegen !
Die Kinder von Besserverdienenden machen oft ein Gap Year, gern bei Straßenkindern in Ecuador. Warum nicht in Deutschland? Und warum nicht alle, als eine gemeinsame, fröhliche, identitätsstiftende Erfahrung?
Viele junge Menschen wollen nach der Schule nicht sofort eine Ausbildung oder ein Studium anfangen, vielleicht, weil sie eine Pause brauchen, weil sie sich orientieren wollen. Es funktioniert auch nicht, die Dienstpflicht als erzieherische Maßnahme von »Boomern« zu labeln. Der Berliner »Tagesspiegel« zitiert eine repräsentative Umfrage , demnach stieg unter den Befragten im Alter von 14 bis 24 Jahren der Anteil der Befürworter eines solchen Dienstes von 22 auf 59 Prozent und verdreifachte sich damit fast im Vergleich zu 2019.
Und was ist das für ein Verständnis von Freiheit, wenn sie nur benutzt wird, um jegliche Verantwortung abzulehnen? Wie »frei« ist denn der Einzelne in der Gesellschaft? Ist dann die Schulpflicht nicht auch Zwang, wie Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow zu Recht anmerkte? Oder die frühe Selektion, die Kinder im Alter von zehn oder elf Jahren in verschiedene Schultypen einsortiert und Arbeiter- und Migrantenkinder in einer Weise benachteiligt, dass es beschämend ist? Oder man stellt gleich die öffentliche Ausbildung infrage, der sich sowieso jedes Jahr mehr Menschen entziehen?
Ich erinnere mich an die Erfahrung einer Freundin, deren Sohn auf eine Hamburger Privatschule geht. Seit Jahrzehnten absolvierten die Schüler in der achten oder neunten Klasse ein Praktikum in einer Obdachlosenunterkunft. Ein großer Teil der Eltern forderte, das Praktikum abzuschaffen. Sie fürchteten eine Traumatisierung der Kinder durch den Kontakt. Die Ablehnung der Dienstpflicht ist der Ausdruck einer ökoliberalen Elite, die sonst gern Quoten und Regelungen fordert, die sich aber selbst in keiner Verantwortung gegenüber dem Staat sieht.
Viele Menschen, die früher Zivildienst geleistet haben, sagen, dass ihnen die Zeit viel gebracht hat. Und das sind nicht nur Anekdoten: Eine Studie der renommierten Wiener Wirtschaftsuniversität aus dem Jahr 2019 kommt zu dem Schluss, dass die Tätigkeit während des Zivildienstes nicht nur positive Wirkung auf das Umfeld hat, sondern auch bei den Zivildienstleistenden selbst: Bei mehr als der Hälfte kam es zu einer Veränderung in ihren Einstellungen zu sozialen und gesellschaftspolitischen Fragen (51 Prozent) sowie zu einem besseren Verständnis für Probleme benachteiligter Gruppen (69 Prozent).
Ein anderes Argument gegen die Dienstpflicht lautet, dass die jungen Menschen nicht als Lückenbüßer für den Fachkräftemangel in Pflegeeinrichtungen oder Kitas benutzt werden sollen. Das stimmt, einerseits. Anderseits könnte man doch auch annehmen, dass vielleicht manch einer Lust bekommt, in einem Bereich zu arbeiten, den er oder sie bisher nicht kannte. Ist das so utopisch?