App »Diskutier Mit Mir« Wie Tinder, nur umgekehrt

Eine App will Menschen mit möglichst unterschiedlichen politischen Ansichten zusammenbringen. Projektleiterin Raewyn Leipold-Olszowka erklärt, wie dabei echter Dialog entstehen kann.
Ein Interview von Sophie Garbe
Diskutier Mit Mir will möglichst verschiedene Menschen ins Gespräch bringen

Diskutier Mit Mir will möglichst verschiedene Menschen ins Gespräch bringen

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Alistair Berg / Digital Vision / Getty Images

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Die Plattform »Diskutier Mit Mir « will Menschen ins Gespräch bringen – und zwar vor allem dann, wenn sie nicht einer Meinung sind. Der Moderator und Schauspieler Louis Klamroth entwickelte das Konzept 2017 gemeinsam mit Freunden, vor der damaligen Bundestagswahl wurde es das erste Mal getestet. Im Superwahljahr 2021 geht die App nun zum ersten Mal ganzjährig an den Start.

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Bis zur Bundestagswahl nehmen wir uns nacheinander große Fragen aus Politik und Gesellschaft vor – und laden zum Diskutieren und Mitmachen ein. Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Frage: »Wie wollen wir miteinander reden?« 

Die Idee: Wer diskutieren will, kann auf der Website oder in der App zunächst Thesen bewerten, die sich zum Beispiel mit dem Sinn des Mietendeckels, einem Verbot von Nebeneinkünften für Abgeordnete oder Ausgangssperren beschäftigen.

Sobald die Bewertungen abgegeben sind, ordnet ein Algorithmus einen Gesprächspartner zu, sofern eine gesprächsbereite Person online ist, die zu einem oder mehreren Themen eine andere Meinung hat.

Lesen Sie hier das Interview mit Projektleiterin Raewyn Leipold-Olszowka:

SPIEGEL: Das Konzept der App klingt wie ein umgedrehtes Dating-Portal: Menschen, die möglichst unterschiedliche Ansichten haben, werden gematcht. Wie kamen Sie darauf?

Leipold-Olszowka: Mit dem Brexit und der Wahl von Donald Trump wurde das Thema Filterblasen immer größer – also, dass Algorithmen Menschen vor allem Inhalte vorschlagen, die ihre bisherigen Ansichten stützen. Hinzu kamen dann noch Hate Speech und Trolle in den sozialen Medien. Kurzum: Wir hatten das Gefühl, dass ein produktiver Diskurs zwischen Menschen mit unterschiedlichen Meinungen online fast nicht mehr möglich ist. Das wollten wir ändern, in einer Demokratie müssen die Menschen miteinander im Gespräch bleiben.

SPIEGEL: Dennoch findet etwa in sozialen Medien doch ständig auch Diskurs und Streit zwischen Menschen mit verschiedenen Ansichten statt. Empfinden Sie das stets als unproduktiv?

Leipold-Olszowka: Klar trifft man auch in sozialen Medien oder analog im Sportverein und Freundeskreis auf Personen mit anderen Meinungen – diese Begegnungen wollen wir auch nicht ersetzen. Die Idee hinter unserer App ist aber, einen Dialog in einem geschützten Raum zu ermöglichen und wirklich eine Eins-zu-eins-Situation zu schaffen. Es darf niemand zuschauen, es gibt kein Publikum. Das macht das Gespräch intimer und sicherer für die Beteiligten.

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Raewyn Leipold-Olszowka ist studierte Islamwissenschaftlerin und Wirtschaftsingenieurin und seit über 15 Jahren in der Kommunikation und im Marketing tätig. Seit 2019 leitet sie das Projekt »Diskutier Mit Mir«.

SPIEGEL: Wie groß ist denn der Bedarf an solchen Eins-zu-eins-Gesprächen?

Leipold-Olszowka: Wir haben die Idee das erste Mal vor der Bundestagswahl 2017 getestet. In sechs Wochen gab es mehr als 20.000 Chats und fast eine halbe Million Nachrichten wurden verschickt. Was uns aber am meisten überrascht hat: Die Chats dauerten im Schnitt sieben Minuten und 48 Sekunden. Das spricht dafür, dass die Menschen sich dort wirklich austauschen wollten – selbst wenn das Gegenüber eine andere Meinung hat. Wir sind überzeugt, dass es 2021 sogar noch deutlich mehr Chats geben wird.

SPIEGEL: Ist die Lage vor dieser Bundestagswahl für Ihr Projekt eine andere – etwa weil die Coronapandemie Spaltungstendenzen in der Gesellschaft befördert und die Menschen verunsichert hat oder der Ausgang dieser Wahl so offen zu sein scheint wie seit vielen Jahren nicht mehr?

Leipold-Olszowka: »Diskutier Mit Mir« ist dadurch einfach noch relevanter geworden als 2017. Eine konstruktive Streitkultur ist essenziell notwendig, um große Herausforderungen wie die Klimakatastrophe oder die Coronapandemie meistern zu können. Gerade deshalb brauchen wir Tools, die uns einen sachlichen Austausch ermöglichen und uns andere Perspektiven aufzeigen. Letztendlich führt uns das nämlich zu einem empathischeren Miteinander.

SPIEGEL: Eskalieren Gespräche in Ihrer App auch manchmal?

Leipold-Olszowka: Grundsätzlich kann ich das nicht sagen, weil wir keine Chatverläufe einsehen können. Aber wir haben uns natürlich damals gefragt, wie wir mit Beleidigungen und Hate Speech  umgehen und dafür einen Mechanismus eingerichtet: Wenn ein User oder eine Userin von drei unabhängigen Leuten wegen Fehlverhalten gemeldet wird, sperren wir die IP-Adresse dieser Person. In der Zeit vor der Bundestagswahl 2017 haben wir tatsächlich nur drei Personen gesperrt. Das bestätigt unsere Annahme, dass man sich in einem Eins-zu-eins-Gespräch einfach anders verhält.

SPIEGEL: Warum eigentlich?

Leipold-Olszowka: Trollen ohne Publikum macht keinen Spaß und ergibt auch wenig Sinn. Hinzu kommt: In unserer App gibt es zwar Meinungsfreiheit, aber natürlich kein Recht auf ein Gespräch. Wenn einem der Chat nicht gefällt, kann man das Gespräch einfach verlassen. Beide Seiten müssen sich also Mühe geben, wenn sie wirklich im Gespräch bleiben wollen.

SPIEGEL: Erreichen Sie auch Leute, die nicht sowieso schon politisch sehr interessiert sind?

Leipold-Olszowka: Gerade für Menschen außerhalb der typischen Politikblase ist unser Angebot doch besonders interessant. Ich habe mal von einer jungen Frau das Feedback bekommen, dass sie eigentlich nie politische Diskussionen führt, weil sie nichts in der Richtung studiert hat und sich daher oft dumm dabei vorkommt. Genau aus diesem Grund fand sie die App gut – weil sie dort politische Themen besprechen konnte, ohne dabei allzu exponiert zu sein. Auch Leute, die sonst vielleicht vor offener politischer Teilhabe zurückschrecken, können via App also geschützt am politischen Diskurs teilnehmen.

SPIEGEL: Die Nutzerinnen und Nutzer chatten in der Regel komplett anonym, nicht einmal das Alter wird verraten. Warum?

Leipold-Olszowka: Das Angebot soll so niedrigschwellig wie möglich sein. Deshalb muss man sich nicht einmal anmelden, um zu chatten – und kann anonym bleiben. Das schützt die Personen, die dort miteinander sprechen. Und es schafft eine andere Gesprächssituation: Bei einem Bernd, einem Mahmut oder einer Claire habe ich vielleicht schon ein vorgefertigtes Bild im Kopf. Wenn ich aber nichts über meinen Gesprächspartner weiß, kann ich mich anders auf die Dinge einlassen, die diese Person sagt.

SPIEGEL: Sie nutzen die App auch selbst. Sind bei Ihnen Gespräche mal gescheitert?

Leipold-Olszowka: Selbstverständlich. Es gibt immer wieder mal Leute, die nur ihren Standpunkt präsentieren wollen, aber nicht wirklich an einem Dialog interessiert sind. Da beende ich das Gespräch dann einfach. In den meisten Fällen hatte ich aber konstruktive Chats. Man lernt teilweise sehr andere Lebensrealitäten kennen, und oft konnte ich dann gut nachvollziehen, warum jemand eine bestimmte Meinung vertritt – selbst wenn ich sie nicht teile. Und genau dieses Verständnis finde ich im Jahr 2021 aufgrund der zunehmenden Polarisierung noch wichtiger als 2017.

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