Von Kabul nach Schwerin Niemals Stille Nacht

Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan: Gefahr für die Dolmetscher
Foto: Michael Kappeler/ dpaDer Heilige Abend hat für den Muslim Abdul eine große Bedeutung. Vergangenes Jahr, in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember, kamen sie in sein Haus in Kabul. Zehn Männer, bewaffnet und maskiert. Sie trieben seine sechs Kinder mit ihrer Mutter in eine Ecke, Abdul hielten sie eine Pistole an den Kopf. "Wir wissen, für wen du arbeitest. Wo ist deine Waffe?" Abdul, der als Sprachmittler für die Bundeswehr in Kabul arbeitete, sagte: "Ich habe keine Waffe." Sie glaubten ihm nicht: "Spione haben alle eine Waffe."
Dann warfen sie ihn auf den Boden, traten auf ihn ein, schlugen ihn. Die Kinder mussten zusehen. "Wenn ihr schreit, töten wir erst euren Vater und dann euch." Dann bekamen die Männer über ein Handy den Befehl, Abduls Haus sofort zu verlassen. Er weiß bis heute nicht, warum sie ihn nicht töteten. Aber sein Leben, wie er es kannte, war vorbei.
Ich habe Abdul in Schwerin kennengelernt. Eigentlich war ich dort, um über den Erfolg der Alternative für Deutschland im Osten zu recherchieren. Am Rande einer AfD-Veranstaltung erfuhr ich zufällig, dass ein Bundeswehr-Dolmetscher aus Afghanistan mit seiner Familie in Schwerin gestrandet ist. Ich suchte den Kontakt zu ihm, was lange brauchte. Abdul hat noch immer Angst - um seine Mutter, seinen Bruder, die weiter in Kabul leben. Deshalb schreiben wir auch nicht seinen echten Namen und zeigen kein Bild. Erst vor kurzem wurde in Afghanistan ein ehemaliger Bundeswehr-Dolmetscher bestialisch ermordet.
Abdul fasste Vertrauen, als ich ihm erzählte, dass ich mit meinen Kindern über Afghanistan geredet habe und mein Vater auch ein Kriegsflüchtling war. Kurzerhand nahm ich dann meine siebenjährige Tochter mit zu dem Treffen mit Abduls Familie in Schwerin. Es hat ihn gefreut, dass er nicht einfach einem Fremden über das Schicksal seiner Familie berichten sollte, sondern dieser Fremde ihm auch seine Familie öffnet.
Nachts hielt er selber Wache
Noch immer ist es so, dass Abdul nachts aufwacht und zur Haustür geht, um zu kontrollieren, ob sie verschlossen ist. Sechs Monate dauerte es nach dem Überfall, bis er nach Deutschland ausreisen konnte. Er bat die Bundeswehr um Hilfe. Die sagten, sie könnten vor seinem Haus Patrouillen vorbeischicken. Abdul war klar, dass das keine Garantie fürs Überleben war. Nachts hielt er selber Wache, tagsüber suchte er nach Möglichkeiten, dort wegzukommen. Er musste sich um alles selbst kümmern. Die Bundeswehr wollte ihn nicht ausfliegen, auch die Einreiseerlaubnis für Deutschland musste er allein organisieren, das Geld für die Flüge bei Verwandten zusammenkratzen.
Er informierte die Deutsche Botschaft über seine Ankunft. In Deutschland wurde eine Notunterkunft in Schwerin für ihn gefunden, die Behörden waren über seine Ankunft informiert. So machte sich Abdul mit seiner Frau, sechs Kindern zwischen zwei und 13 Jahren und sieben Koffern auf den Weg in den Westen. Namen und Telefonnummern von Bundeswehrsoldaten, mit denen er in Kabul gearbeitet hatte, durfte er aus Sicherheitsgründen nicht mitnehmen.
Am 5. September, um 6 Uhr morgens, landeten sie in Frankfurt am Main. Draußen in der Empfangshalle standen Menschen, die Schilder mit Namen hochhielten. Seinen Namen suchte er vergeblich. Die Kinder lagen mit ausgestreckten Armen und Beinen auf den Koffern und schliefen vor Erschöpfung. Abdul wartete. Eine Stunde. Zwei, drei. Dann sprach er zwei Polizisten an, erzählte seine Geschichte, zeigte seine Papiere. Die nahmen ihn mit in ein Büro, besorgten die Telefonnummer der Ausländerbehörde in Schwerin und verabschiedeten sich wieder.
Abdul rief in Schwerin an, dort gab man ihm eine Adresse und den Rat, sich ein Taxi zu nehmen. So fuhr Abdul mit seiner Großfamilie im Taxibus für 930 Euro von Frankfurt am Main nach Schwerin in Mecklenburg-Vorpommern. Abends um 22 Uhr standen sie dann vor der Wohnung in einem Randgebiet der Stadt. Die Kinder staunten über die grünen Bäume. Eine Frau von der Arbeiterwohlfahrt nahm sie in Empfang. Endlich hatte Abdul erstmals das Gefühl, dass sich eine Tür öffnet, wenn er anklopft und um Hilfe bittet.
Die Hoffnung auf eine sichere Zukunft
Seitdem lebt Abdul nun in Schwerin, er meldete die älteren Kinder sofort in der Astrid-Lindgren-Schule an, das Jüngste im Kindergarten. Trotz der Sprachbarriere bringen sie schon nach zwei Monaten lauter Einsen und Zweien nach Hause. Wenn er ihre Schulhefte zeigt, ist Abduls Stolz zu spüren - und seine Hoffnung auf eine sichere Zukunft. Er möchte, dass seine Kinder mal in Deutschland studieren. Vielleicht wird eines ein Arzt, das wäre sein Traum. Auch weil seine Frau kurz nach der Ankunft in Deutschland einen leichten Schlaganfall erlitt. Sie lag im Krankenhaus und verstand kein Wort von dem, was die Ärzte sagten.
Abdul blieb vormittags bei den jüngsten Kindern. Sobald die Älteren aus der Schule kamen, fuhr er bis zum Abend ins Krankenhaus. Die Kinder schlossen sich in der Wohnung ein, mussten sich selbst versorgen. Sie hörten die Stimmen draußen auf der Straße, die fremde Sprache. Die Kleinen weinten und bettelten ihren Vater abends an, am nächsten Tag bei ihnen zu bleiben. "Es ging ja nicht."
Ob er es verstehen könnte, wenn eines seiner Kinder vielleicht später mal als Arzt nach Afghanistan zurückkehrt? Abdul zögert. Er telefoniert jede Woche mit seiner Verwandtschaft. Und er weiß nicht, wie es in Afghanistan weitergeht, wenn die Militärs sich zurückziehen. Er hat genauso viel Sehnsucht wie Angst. Er wagt es nicht, seine Dolmetscher-Kollegen dort anzurufen. Warum? "Weil sie Fragen haben, die ich nicht beantworten kann." Welche? "Warum kommen wir hier nicht raus, um unsere Familien zu retten?"
Abdul möchte gerne arbeiten, "egal was". Er hat ein sehr gutes Zeugnis von der Bundeswehr - für mehr als zehn Jahre Dienst in Kabul: "Meine Arbeit hat Leben gerettet", sagt er. Also meldete er sich bei der Bundeswehr in Deutschland. Wenn er über seine Zeit für das deutsche Militär spricht, redet Abdul noch immer über "meine Freunde von der Bundeswehr". Aber sie sagten, sie haben für ihn in Deutschland keinen Job mehr. Er sagt: "Ich möchte auf keinen Fall irgendwas Schlechtes über Deutschland oder die Bundeswehr sagen." Das ist ihm sehr wichtig. Also schweigt er. Es ist ein stolzes Schweigen - und ein verletztes.
Auf dem Rückweg nach Berlin fragte mich meine Tochter: "Papi, ist Deutschland ein egoistisches Land?" Es hat sie beeindruckt, dass Kinder sich jeden Tag darüber freuen, zur Schule gehen zu können, einfach, weil es für sie nicht selbstverständlich war.
Den Heiligen Abend wird Abdul dieses Jahr als Gast in einer deutschen Familie verbringen. Und vielleicht kommt die Zeit, in der er nachts nicht mehr ängstlich die Tür kontrolliert - und jeder Abend für sie eine stille Nacht wird. Auf dem Weihnachtswunschzettel meiner Tochter steht: "Frieden". Abdul sagte zum Abschied: "Das Wichtigste ist, dass wir alle noch zusammen sind."