Jakob Augstein

Debatte über Doppelpass Wer sind wir ...

... und wenn ja wie viele? An der doppelten Staatsbürgerschaft entzünden sich alte Debatten neu: Was bedeutet es, ein Deutscher zu sein. Und wie wird man dazu? Angela Merkel kennt die Antwort nicht.

Manchmal genügt ein einziger Satz. Und man erkennt, wie deprimierend die Lage ist: "Von den Türkischstämmigen, die schon lange in Deutschland leben, erwarten wir, dass sie ein hohes Maß an Loyalität zu unserem Land entwickeln." Die Bundeskanzlerin hat das jetzt gesagt. Sie hat damit über die Geschichte der Integration ein Todesurteil gefällt. Und unfreiwillig hat sie deutlich gemacht: Wenn Deutschland seine Zukunft als Einwanderungsland nicht verspielen will, braucht es endlich ein anderes Verständnis von nationaler Identität.

Alles an diesem Satz der Kanzlerin weist in die falsche Richtung: Die Formulierung von den "Türkischstämmigen" erkennt selbst in denen, die einen deutschen Pass haben, noch die Fremden. Merkels Wendung, diese Menschen lebten "schon lange in Deutschland", ignoriert den Umstand, dass etliche schlicht hier geboren wurden - und schon länger zur Bundesrepublik Deutschland gehören als die Kanzlerin selbst.

Am schlimmsten ist aber das "Wir", von dem die Kanzlerin spricht. Es ist ein Wir, das die Migranten und ihre Nachkommen ausschließt. Ob willentlich oder aus Versehen hat Angela Merkel ihr ganz persönliches Verständnis von Integration enthüllt: Es gibt keine.

Die Regierungschefin des Einwanderungslandes Deutschland hat ihre Subjekte nach deren Herkunft eingeteilt. Das hätte ihr nicht passieren dürfen. Merkels Satz zeigt die ganze Ratlosigkeit angesichts der Realität der Migration. Vielleicht ist es auch Kapitulation. Aus Einwanderern können ohnehin niemals "richtige" Deutsche werden - das scheint sich zur Überzeugung zu verfestigen.

Die neu entflammte Debatte über den Doppelpass ist ein Beleg für diese gefährliche Tendenz. Diese Kolumne hat neulich die These aufgestellt, dass der Doppelpass ein Eigentor der Integrationspolitik sei. Das gab Widerspruch. Vom Autor Imran Ayata kam der Vorwurf der Effekthascherei. Der Grüne Jürgen Trittin schrieb: "Mit Rassismus spielt man nicht."

Wie werden aus Fremden Deutsche?

Tatsächlich lässt sich sagen: Der Ausweis allein ist noch kein Ausweis für Integration. Aber das Festhalten an einer migrantischen Sonderidentität ist ihr Gegenteil.

Die gutwilligen Befürworter der doppelten Staatsbürgerschaft bleiben ungewollt auf der Seite des heutigen türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der im Jahr 2010 in einer denkwürdigen Rede in Köln sagte: "Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit." Aber die Einwanderungsgesellschaft wird auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn sie sich die Assimilation als Ziel setzt. Wie werden also aus Fremden Deutsche?

Die Deutschen könnten sich daran erinnern, wie es war, als sie selbst zu Hunderttausenden in die Vereinigten Staaten von Amerika auswanderten. Heute würde man sie wohl als schwer integrierbar bezeichnen. Sie waren politisch radikal, sie kümmerten sich nicht um den heiligen Sonntag, sie neigten zur Trunksucht, sie beharrten auf dem Gebrauch ihrer Sprache und sie schotteten sich in ihren Vereinen, Biergärten und Schulen ab.

Mit einem Wort: Im 19. Jahrhundert bildeten die Deutschen in den USA eine klassische Parallelgesellschaft. Sie wurden von der angelsächsischen Mehrheitsgesellschaft mit einem Gefühl der Fremdheit beobachtet - so wie heute die muslimischen Migranten in Europa.

Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg aber waren aus den Deutschen Amerikaner geworden. In den Zwanzigerjahren konnte der Autor Henry Louis Mencken feststellen: "Der Schmelztiegel hat die Deutschamerikaner verschlungen wie keine andere Gruppe, wie nicht einmal die Iren." Aus der amerikanischen Geschichte, die auch ihre eigene ist, könnten die Deutschen heute lernen.

"Multikulti wird nicht funktionieren", hat der Politikwissenschaftler Herfried Münkler schon vor geraumer Zeit mit Blick auf kommende Migranten gesagt: "Wir müssen diese Menschen zu Deutschen machen." Er war zur gleichen Zeit im Recht und im Irrtum: Gelungene Integration verbindet Leitkultur und Multikulturalität. Aus Einwanderern müssen Deutsche werden. Aber das Wort wird künftig eine andere Bedeutung haben.

In einem neuen Buch hat Münkler nun gemeinsam mit seiner Frau, der Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler, fünf Merkmale des Deutschseins aufgezeichnet.

  • Die Überzeugung, dass man für sich und seine Familie selbst sorgen kann und nur ausnahmsweise auf Unterstützung durch die Solidargemeinschaft angewiesen ist.
  • Die Sicherheit, dass man sich durch eigene Leistung Anerkennung und Aufstieg erarbeiten kann.
  • Die Überzeugung, dass der religiöse Glaube eine Privatangelegenheit ist, die im gesellschaftlichen Leben eine nachgeordnete Rolle zu spielen hat.
  • Das Wissen, dass jede Entscheidung für eine bestimmte Lebensform und die Wahl des Lebenspartners in das Ermessen des Einzelnen fällt und nicht von der Familie vorgegeben wird.
  • Schließlich das Bekenntnis zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

Deutschsein, schreiben die Münklers, solle kein Merkmal sein, "auf dem man sich ausruhen kann, weil man es qua Geburt bekommen hat und es einem nicht genommen werden kann. (...) Es handelt sich vielmehr um eine normativ angereicherte Identitätszuschreibung, die Anforderungen enthält, denen man sich stellen muss." Tatsächlich, viele, die sich selber für Deutsche halten, müssten sich Mühe geben, diesen Kriterien gerecht zu werden.

Es ist in diesen Tagen genau ein Jahr her, dass sich Deutschland für Zehntausende verfolgte, Schutz suchende Menschen öffnete. Diese Entscheidung hat schon jetzt das Etikett "historisch" erhalten, "weil sie die Geschichte teilt, in ein Vorher und ein Nachher", wie die "Zeit" neulich geschrieben hat.

Die Frage ist nur, ob die handelnden Personen - und das sind wir alle, die Politiker, die Bürger, die Medien, die Migranten - sich ihrer Rolle in einem solchen historischen Prozess im Klaren sind, der Verpflichtung, die daraus erwächst, dass wir es sind, die den Übergang von diesem Vorher zu diesem Nachher gestalten.

In dieser Woche...

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Verfassung: Was bewegt Mecklenburg-Vorpommern vor den Landtagswahlen? Ein Reisebericht

Psychologie: Zwischen Wahn und Wahrheit - zum richtigen Umgang mit der Verschwörungstheorie

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