Brandbrief an Merkel "Ein Viertel der Bevölkerung fürchtet um seine Unversehrtheit"

Saraya Gomis, Farhad Dilmaghani, Marta Neüff, Cihan Sinanoglu (v.l.n.r.): "Man stelle sich ein Kabinett vor, das nicht einen einzigen Ostdeutschen umfasst oder keine einzige Frau"
Foto:Wolfgang Kumm/ dpa
Nach dem rassistischen Anschlag von Hanau mit zehn Todesopfern drängen Migrantenverbände die Bundeskanzlerin zum Handeln.
"Die Würde des Menschen ist nicht gleichermaßen unantastbar für alle Menschen in Deutschland", schrieb das Netzwerk aus 40 Migrantenorganisationen in einem offenen Brief an Angela Merkel. Der Brief sei verfasst worden, "stellvertretend für das Viertel der Bevölkerung, das um seine Unversehrtheit, um seine Zukunft und die seiner Kinder fürchtet".
Im hessischen Hanau hatte ein offenbar schwer gestörter Mann am Abend des 19. Februar in einer Shisha-Bar und vor einem Kiosk neun Menschen ermordet und mehrere verletzt, die er ihrem Aussehen nach für Menschen mit Migrationsgeschichte hielt.

Gedenken an die Opfer von Hanau, ermordet beim Anschlag vom 19. Februar
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Dann fuhr er nach Hause, erschoss seine Mutter und sich selbst. In Dokumenten und Videos, die der Täter ins Netz stellte, dokumentierte er sein rassistisches Weltbild, das er mit Auslöschungsfantasien und mit bei Rechtsextremen beliebten Verschwörungstheorien verband.
"Rassistische Äußerungen sind nicht allein Sache der AfD"
Bezug nahmen die Autorinnen und Autoren des Briefs auch auf die kürzlich aufgeflogene rechte Terrorzelle "Gruppe S.". Sie soll Anschläge auf Moscheen und Politiker geplant haben.
Die Verbände beklagten, im Bundeskabinett gebe es nicht eine Person, die Erfahrung mit Rassismus habe. "Man stelle sich ein Kabinett vor, das nicht einen einzigen Ostdeutschen umfasst oder keine einzige Frau."
Konkret schlagen die Verbände vor, aus der Fachkommission "Integrationsfähigkeit" einen ständigen "Partizipationsrat Einwanderungsgesellschaft" aus Wissenschaftlern und Vertretern von Migrantenorganisationen zu schaffen. Er solle ähnlich dem Ethikrat beim Bundestag angesiedelt werden und für eine dauerhafte Auseinandersetzung mit der Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft sorgen.
Beim nächsten Integrationsgipfel im Kanzleramt am kommenden Montag sollten "substanzielle, zählbare Verbesserungen" auf den Weg gebracht werden, verlangten die Absender des Briefs. "Deutliche Worte nach Gewalttaten alleine helfen nicht, weitere Opfer zu verhindern."
Antirassismus soll ins Grundgesetz, Begriff "Rasse" streichen
"Mit der AfD im Bundestag haben sich die Grenzen des Sagbaren verschoben", heißt es in dem Schreiben weiter. "Rassistische Äußerungen im politischen Raum allerdings sind nicht allein eine Sache der AfD." Seit in Thüringen Rechtsextreme den Ministerpräsidenten bestimmen hätten können, "ist aus unserer Sorge Angst geworden".
In einem "Masterplan" fordern die Verbände, Antirassismus und Demokratieförderung als Staatsauftrag ins Grundgesetz und die Verfassungen der Länder aufzunehmen. Der Begriff "Rasse" müsse hingegen aus dem Grundgesetz gestrichen werden. Der Begriff sei ein "pseudowissenschaftliches Konstrukt", das die Ungleichheit von Menschen postuliere.