CDU-Vordenker Brok über Europa in der Krise "Diese verstörende Haltung, dass 75 Jahre nach Kriegsende alle nach unserer Pfeife tanzen sollen"

Europapolitiker Brok: "Ein seltsam germanozentrisches Weltbild"
Foto: Marcel Kusch/ DPASPIEGEL: Herr Brok, Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron haben vorgeschlagen, die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise mit einem europäischen Wiederaufbaufonds zu kontern. Ist das endlich das Zeichen der Solidarität, das viele Europäer in der Coronakrise bislang bei den Deutschen vermisst haben?
Elmar Brok: Der Vorschlag ist in der Sache richtig und ein wichtiges Zeichen, dass Europa in der Krise zusammenhält und eine Schicksalsgemeinschaft ist. Die Kommission muss dies für ihre Vorlage nächste Woche nutzen, am Ende müssen alle 27 EU-Länder zustimmen.

Elmar Brok, Jahrgang 1946, wurde 1980 erstmals ins Europaparlament gewählt und gehörte ihm fast 40 Jahre an. In dieser Zeit hielt er dort einflussreiche Positionen, unter anderem war er insgesamt 13 Jahre lang Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Brok ist seit seinem Ausscheiden aus dem EU-Parlament weiterhin Mitglied des Bundesvorstands der CDU und gilt als Vertrauter von Bundeskanzlerin Angela Merkel.
SPIEGEL: Ist das aber nicht der Einstieg in Corona-Bonds, also gemeinsame Schuldentitel, die Ihre Partei bislang immer strikt abgelehnt hat?
Brok: Nein, das ist eine Sondersituation: Es geht um eine begrenzte, klar umrissene Aufgabe - den Wiederaufbau nach der Coronakrise - und gerade nicht um die Vergemeinschaftung von Altschulden.
SPIEGEL: Die neue Großzügigkeit der Kanzlerin ist auch ein Befreiungsschlag. Immerhin waren die ersten Aktionen Deutschlands in der Coronakrise nicht vom europäischen Geist geprägt. Berlin verhängte kurzzeitig ein Exportverbot für medizinische Güter und führte Grenzkontrollen ein. Warum hat ausgerechnet Deutschland in der Krise mit nationalen Reflexen reagiert?
Brok: Viele Bürger kennen den Nutzen Europas nicht mehr, das ist eine schlimme Entwicklung. Deutschland zahlt doch eh nur - das ist auch die Einstellung vieler Politiker, die in Berlin Verantwortung tragen. Wahr ist: Deutschland zahlt, wie jedes EU-Mitglied, einen Anteil, der der Größe seines Bruttoinlandsprodukts entspricht. Bisher sind das gut 21 Prozent des EU-Haushaltes. Und an der Europäischen Zentralbank ist Deutschland mit 26 Prozent beteiligt. Ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung dem deutschen Bundestag künftig jedes Jahr eine detaillierte Kosten-Nutzen-Analyse über die Frage vorlegen muss, was Europa uns kostet - und was es uns nutzt.
SPIEGEL: Auf der anderen Seite haben ja, anders als während der Euro- oder Griechenlandkrise, heute alle EU-Länder mit den Folgen des Virus zu kämpfen, auch die Reicheren im Norden. Können Sie da nicht verstehen, dass viele Politiker erst mal auf ihr eigenes Land schauen und zum Beispiel sagen: Mehr als rückzahlbare EU-Kredite kann es für Länder wie Italien nicht geben?
Brok: Nein. Wir müssen Ländern wie Italien helfen, ohne dass deren Staatsverschuldung weiter anwächst. Sonst steigen auch die Risikoaufschläge für deren Staatsanleihen - mit all den Folgeproblemen. Dann wird es teuer, auch für Deutschland. Genau deswegen müssen wir den Märkten in der Krise signalisieren, dass wir Europäer zusammenstehen.
SPIEGEL: Von den staatlichen Beihilfen, mit denen die EU-Mitglieder derzeit ihren Unternehmen helfen - insgesamt sage und schreibe 1,8 Billionen Euro -, entfällt etwa die Hälfte auf Deutschland. Ist dieses deutsche Übergewicht eine Bedrohung für die EU?
Brok: Das ist eine echte Gefahr. In Deutschland glauben viele, dass wir einen rein deutschen Ausstieg aus dieser Krise hinbekommen. Das ist Unsinn: Ein Aufschwung Deutschlands geht nur im EU-Binnenmarkt. Es nutzt uns, wenn auch unsere Nachbarn ihren Hintern hochbekommen. Wenn sich die Lombardei, einer der innovativsten und wirtschaftsstärksten Regionen Europas, nicht erholt, ist das eine Katastrophe für die Lieferketten deutscher Unternehmen.
SPIEGEL: Sie kannten Helmut Kohl gut. Wie hätte er in dieser Krise reagiert?
Brok: Das ist immer schwer zu sagen, weil er sich ja nicht in dieser Situation befand. Kohl hätte Europa im Blick gehabt. Er hat bei der Einführung des Euro ja ungeheuren Mut bewiesen, und das Projekt gegen viele in der deutschen Öffentlichkeit durchgesetzt. Die Kleinkariertheit des Urteils des Bundesverfassungsgerichts beispielsweise hätte er nicht verstanden, da bin ich mir sicher. Diese immer öfter mitschwingende, verstörende Haltung, dass 75 Jahre nach Kriegsende wieder alle nach unserer Pfeife tanzen sollen, das hätte Helmut Kohl nicht zugelassen.
SPIEGEL: Die Karlsruher Richter urteilten, dass die Anleiheaufkäufe der EZB teilweise verfassungswidrig seien und bescheinigten dem Europäischen Gerichtshof, dass er in einer Entscheidung dazu "ultra vires", also jenseits seiner Kompetenzen, gehandelt habe. Was sagen Sie zu dem Urteil?
Brok: Ich halte das Urteil für gefährlich. Die Angriffe auf den Europäischen Gerichtshof sind maßlos übertrieben und sachlich falsch. Und ökonomisch schimmert hinter der Entscheidung ein seltsam germanozentrisches Weltbild hervor. Schauen Sie doch nur auf die rein auf Deutschland bezogene Betrachtung der Verhältnismäßigkeit: Die Notenbanken in den USA und in Japan machen die gleiche Krisenpolitik wie die EZB. Dies nur mit der Brille einiger deutscher Nationalökonomen zu betrachten, ist weltfremd. Man muss sich überdies auch mal anschauen, wer die Kläger bei all diesen Verfahren gegen die Maßnahmen zur Rettung des Euro sind: Gauweiler, Lucke, Kerber - das ist eine Handvoll Leute, die das Verfassungsgericht benutzen, um den Euro und damit Europa Stück für Stück kaputt zu machen. Mich erstaunt, dass die Richter das mit sich machen lassen.
SPIEGEL: Andererseits sorgen sich viele Bürger um die Auswirkungen der EZB-Entscheidungen auf ihre Lebensversicherungen oder das Ersparte für das Alter. Da kann ein klärendes Wort aus Karlsruhe doch nicht schaden?
Brok: Das klärende Wort muss vom Europäischen Gerichtshof kommen. Der ist zuständig. Wenn jeder nationale Gerichtshof, etwa der ungarische oder der polnische, nun so vorgeht wie das Bundesverfassungsgericht, dann zerfällt die europäische Rechtsordnung. Überdies ist es doch nicht so, dass die EZB keinerlei Rechenschaft ablegen muss. Die EZB-Präsidentin muss jedes Vierteljahr vor einem Ausschuss des Europäischen Parlaments Rede und Antwort stehen. Das ist einer der Fälle, in denen das Europaparlament mehr zu sagen hat als der deutsche Bundestag. Nebenbei zeigt das auch: Das ständige Heruntersetzen des Europaparlaments durch die Karlsruher Richter beruht auf der mangelnden Kenntnis des Brüsseler Politikalltags.
SPIEGEL: Ihre Partei, die CDU, war ja lange Zeit stolz darauf, Europapartei zu sein. Welcher der Kandidaten für den Parteivorsitz verkörpert diese Tradition am besten?
Brok: Ich mache jetzt hier keinen Wahlkampf. Dass Armin Laschet ein überzeugter Europäer ist, kann man in dieser Krise allerdings gut sehen: Da reicht ein Blick darauf, in welchem Bundesland die Grenzen zu den europäischen Nachbarn in der Krise offen sind und offen bleiben. Aber die CDU hat Glück: Auch Norbert Röttgen und Friedrich Merz sind gute Europäer.