
Ende eines Jahrzehnte-Kampfs Atomkraft ade
Berlin - Es ist eine historische Stunde im Bundestag: Ab 9 Uhr debattieren die Abgeordneten im Plenarsaal am Donnerstag über den schrittweisen Atomausstieg. Anschließend wollen Union, FDP, SPD und Grüne in selten dagewesener Einigkeit das Ende der Kernkraft besiegeln.
Der Schritt ist europaweit einzigartig und markiert das Finale eines mehr als 30 Jahre währenden Protests gegen Atommeiler in Deutschland ( siehe Fotostrecke). Nach der Katastrophe im japanischen Fukushima hatte sich Kanzlerin Angela Merkel zur Rücknahme der Laufzeitverlängerung entschieden - die noch im vergangenen Herbst von Schwarz-Gelb durchgesetzt worden war.
Mit der Atomgesetznovelle soll der Ausstieg nun bis zum Jahr 2022 gesetzlich verankert werden. Gleichzeitig sollen Stromnetze und erneuerbare Energien ausgebaut und umfassend Energie gespart werden.
Doch der Ausstiegsplan ist nur ein Teil der geplanten Energiewende: Insgesamt stehen acht Gesetze zur Abstimmung. Darüber entscheidet der Bundestag im Detail:
- Atomausstieg: Am 31. Dezember 2022 soll das letzte Atomkraftwerk in Deutschland vom Netz gehen. Acht derzeit abgeschaltete Reaktoren sollen nicht mehr in Betrieb genommen werden. Die neun weiteren gehen 2015, 2017, 2019 (jeweils ein AKW), 2021 (drei AKW) und 2022 (drei AKW) vom Netz.
- Zusätzlich will die Bundesregierung bis Frühjahr 2013 ein altes Kraftwerk in Wartestellung halten ("Kaltreserve"). Um Energieengpässe in den kommenden beiden Wintern zu überbrücken, sollen aber zunächst konventionelle Kraftwerke als Reservekapazität genutzt werden. Die Entscheidung darüber trifft die Bundesnetzagentur.
- Ausbau erneuerbarer Energien: Langfristig sollen erneuerbare Quellen wie Sonne, Wind, Biomasse oder Wasser fast den gesamten deutschen Strom liefern. Bis 2020 soll sich der Anteil von heute 17 auf 35 Prozent verdoppeln und danach weiter wachsen. Hierfür setzt die Regierung vor allem auf neue Windparks auf hoher See, die stärker gefördert werden sollen.
- Auch Wasserkraft und Geothermie - Gewinnung von Strom aus Erdwärme - sollen von höheren Vergütungssätzen profitieren. Im Gegenzug sinkt die Vergütung für Windkraft an Land, Biomasse und Photovoltaik. Das Bundesumweltministerium rechnet wegen der Ökostrom-Förderung mit vorübergehend steigenden Strompreisen, die aber bis 2030 deutlich sinken sollen.
- Energiewirtschaftliche Vorschriften: Das Paket enthält Regelungen zur verbesserten Ausbauplanung der Stromnetzbetreiber. Verbraucher sollen mehr Rechte beim Stromanbieterwechsel erhalten. Zudem umfasst das Gesetz auch Regeln zur Entflechtung von Energieerzeugung und -vertrieb.
- Tausende Kilometer neue Netze: Die Höchstspannungsnetze in Deutschland sollen zügig ausgebaut werden, um den Strom zum Verbraucher zu bringen. Insgesamt ist das Stromnetz 1,74 Millionen Kilometer lang, davon machen Höchstspannungsleitungen mit 220 und 380 Kilovolt - die sogenannten Stromautobahnen - 34.570 Kilometer aus. Nach Berechnungen der Deutschen Energie-Agentur müssen bis 2020 rund 3600 Kilometer neu gebaut werden. Bundesfachplanung und Planfeststellungsverfahren sollen bei der Bundesnetzagentur gebündelt werden. Die Länder wollen sich jedoch ein Mitspracherecht vorbehalten.
- Anreize für Gebäudesanierung: Für die Sanierung von Gebäuden, die vor 1995 errichtet wurden, gibt es künftig Steuervorteile. Geplant sind Förderungen, die sich bis 2022 auf Steuermindereinnahmen von 1,5 Milliarden Euro jährlich summieren werden, wovon Länder und Gemeinden bis zu 900 Millionen Euro zu tragen hätten.
- Sondervermögen Energie- und Klimafonds: Wegen der Verkürzung der Laufzeiten für die Atomkraftwerke entfallen Zahlungen der Energieversorger an den Energie- und Klimafonds. Ab 2012 sollen daher alle Einnahmen aus dem Emissionshandel dem Fonds zugutekommen. Mit dem Geld werden erneuerbare Energien und Energieeffizienz gefördert. Die Entscheidung über die konkrete Höhe des Programms fällt allerdings erst in den Haushaltsberatungen. Ab 2013 können stromintensive Unternehmen zudem mit Zuschüssen von jährlich bis zu 500 Millionen Euro rechnen.
- Klimaschutz in Städten und Gemeinden: Das Bau- und Planungsrecht soll vereinfacht werden. Künftig sollen etwa Flächen für Windkrafträder und Kraftwerke leichter ausgewiesen werden können. Auch soll es in Zukunft einfacher werden, Solaranlagen an oder auf Gebäuden zu installieren.
- Ausbau der Offshore-Windenergie: Um den Ausbau der Windenergie auf dem Meer zu beschleunigen, sollen die Verfahren für die Genehmigung von Anlagen vereinfacht werden. Bis zum Jahr 2030 will die Regierung bis zu 25.000 Megawatt aus Offshore-Windanlagen gewinnen.
Neben den Koalitionsfraktionen will auch die SPD den Atomausstieg unterstützen. Die Grünen vereinbarten auf einem Sonderparteitag am vergangenen Wochenende ebenfalls ein Ja. Kritik äußern beide Fraktionen weiterhin an den übrigen Gesetzen zur Energiewende. Mehrere davon wollen sie nicht mittragen. So halten sie etwa das Ziel von Union und FDP, den Ökostrom-Anteil bis 2020 auf 35 Prozent zu steigern, für zu niedrig. Sie fordern 40 Prozent.
Ärger in den Ländern
Nach dem Bundestagsvotum soll Ende kommender Woche, am 8. Juli, noch der Bundesrat entscheiden. Obwohl die Länderkammer den meisten Gesetzen nicht zustimmen muss, könnte sie das Verfahren theoretisch durch die Anrufung des Vermittlungsausschusses verzögern. Das Gesetz zur steuerlichen Förderung der Gebäudesanierung ist das einzige Gesetz, das der Bundesrat abnicken muss.
Änderungen auf Druck der Länder gibt es bereits beim geplanten Netzausbau. Die Koalitionsfraktionen griffen Bedenken der Landesregierungen auf, die auf ein Mitspracherecht bei der Planung des Netzausbaus pochten. Hatte die Koalition zunächst eine bundeseinheitliche Prüfung der Raumverträglichkeit und eine Planfeststellung durch die Bundesnetzagentur vorgesehen, soll die Bundesregierung jetzt in diesen Fällen eine Rechtsverordnung für zu bauende Höchstspannungsleitungen vorlegen, der der Bundesrat zustimmen muss.
Kurz vor der Abstimmung setzten die Fraktionen von Union und FDP zum Ärger der Länder jedoch auch noch Änderungen bei der Förderung von Windkraft an Land durch. Die Vergütung von 9,02 Cent pro Kilowattstunde Strom soll nun doch statt um einen Prozentpunkt jährlich um 1,5 Punkte sinken - die Länder hatten sich dagegen ausgesprochen. Auch bei der steuerlichen Förderung von Sanierungsvorhaben gibt es noch Streit. Wie die "Berliner Zeitung" berichtete, lehnt die Regierung die Forderung der Länder ab, die vollen Steuerausfälle von 1,5 Milliarden Euro zu übernehmen.
Klagewelle droht
Daher kann es sein, dass der Bundesrat nicht alle Vorhaben mittragen wird und den Vermittlungsausschuss anrufen könnte. Allerdings gilt es als unwahrscheinlich, dass die Länderkammer der Energiewende im Weg stehen wird.
Der Streit zwischen der Politik und den AKW-Betreibern dürfte dagegen noch über Jahre die Gerichte beschäftigen. Die Konzerne RWE und E.on hatten in der vergangenen Woche gemeinsam eine erste Klage gegen die Brennelementesteuer eingereicht. EnBW als dritter betroffener Kraftwerksbetreiber hält sich noch bedeckt, könnte aber ebenfall vor Gericht ziehen - eine Entscheidung wird für Mitte Juli erwartet. Die Konzerne bezeichnen die Abgabe als rechtswidrig. Zudem fordern die Betreiber Schadensersatz in Milliardenhöhe für die Stilllegung der Anlagen.
Deutschlands langer Weg zum Atomausstieg - Chronologie zum Nachlesen
13. Januar 1999: Die rot-grüne Koalition verständigt sich auf Eckpunkte eines Atomgesetzentwurfs. Die Nutzung der Atomenergie soll "geordnet und sicher beendet" werden.
14./15. Juni 2000: Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) einigt sich in Verhandlungen mit Strommanagern auf den Atomkonsens.
27. April 2002: Das Gesetz tritt in Kraft, nachdem der Bundesrat es am 1. Februar mangels Zustimmungspflicht passieren lassen musste.
2005 bis 2009: Eine Rücknahme des Atomausstiegs ist in der Großen Koalition kein Thema.
26. Oktober 2009: Im Koalitionsvertrag von Union und FDP heißt es: "Die Kernenergie ist eine Brückentechnologie, bis sie durch erneuerbare Energien verlässlich ersetzt werden kann." (...) Dazu sei man bereit, die Laufzeiten der Kernkraftwerke zu verlängern.
7. Juni 2010: Die Regierung beschließt, dass die Atomkonzerne unabhängig von Laufzeitverlängerungen eine Steuer auf Brennelemente zahlen sollen. Das soll ab 2011 jährlich 2,3 Milliarden Euro bringen.
5. September 2010: Die Koalition einigt sich auf im Schnitt zwölf Jahre längere Laufzeiten - im Gegenzug sollen die Konzerne rund 30 Milliarden Euro über Atomsteuer und Ökofonds zahlen.
9. September 2010: Ein Vertrag zwischen Regierung und Atomkonzernen wird bekannt, in dem sich die Konzerne Schutzklauseln zusichern lassen. Die Kosten für Sicherheitsnachrüstungen werden auf jeweils 500 Millionen Euro pro AKW begrenzt. Bei höheren Kosten reduzieren sich die Zahlungen für den Fonds zum Ausbau erneuerbarer Energien.
18. September 2010: 100.000 Menschen demonstrieren nach Angaben der Veranstalter in Berlin gegen die schwarz-gelbe Atompolitik.
28. Oktober 2010: Der Bundestag verabschiedet die längeren Laufzeiten gegen erbitterten Widerstand der Opposition.
28. Februar 2011: Fünf SPD-regierte Länder klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Laufzeitverlängerung. Später reichen auch 214 Bundestagsabgeordnete von SPD und Grünen Klage ein.
12. März: Nach einem schweren Erdbeben und dem darauffolgenden Atomunfall von Fukushima in Japan kündigt Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Sicherheitschecks für die 17 deutschen AKW an.
15. März: Kurz vor wichtigen Landtagswahlen ändert Merkel ihren Kurs: Sie kündigt an, dass sieben ältere AKW vorübergehend abgeschaltet werden, die nur wegen der Laufzeitverlängerung noch in Betrieb sind. Auch das nach Pannen stillstehende AKW Krümmel bleibt vom Netz.
22. März: Die Regierung beauftragt die Reaktorsicherheitskommission (RSK), die 17 AKW technisch zu prüfen. Eine neue Ethikkommission soll klären, welches Atomrisiko für die Gesellschaft vertretbar ist.
27. März: Nach fast 60 Jahren CDU-Herrschaft gewinnt in Baden-Württemberg Grün-Rot die Landtagswahl.
1. April: Der Betreiber RWE reicht beim Verwaltungsgerichtshof Kassel Klage gegen die vorübergehende Abschaltung des AKW Biblis ein.
17. Mai: Aus dem Prüfbericht der Reaktorsicherheitskommission lässt sich kein klares Urteil ableiten. Aber: Die ältesten Meiler sind besonders schlecht gegen Flugzeugabstürze geschützt.
22. Mai: Vier Übertragungsnetzbetreiber warnen vor Stromausfällen, wenn acht AKW auf einen Schlag abgeschaltet werden. Die FDP schlägt vor, ein bis zwei abgeschaltete AKW in Bereitschaft zu halten.
28. Mai: Die Ethikkommission empfiehlt einen Atomausstieg binnen zehn Jahren und umfangreiche Maßnahmen, damit die Energiewende klappt.
30. Mai: Die schwarz-gelbe Koalition will das letzte AKW bis 2022 abschalten, die sieben ältesten Meiler und Krümmel sofort. Ein AKW soll für mögliche Stromengpässe bis 2013 "Stand-by" bleiben.
31. Mai: E.on teilt mit, wegen des Festhaltens der Regierung an der Brennelementesteuer Klage einzureichen. Pro Jahr und Meiler kostet die Steuer 150 Millionen Euro. Auch RWE teilt später mit, man klage.
3. Juni: Die Bundesländer verlangen eine stufenweise Abschaltung der verbleibenden neun AKW. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verkündet nach einem Treffen mit den Ministerpräsidenten einen Fünf-Stufen-Plan: 2015, 2017 und 2019 je ein AKW, 2021 und 2022 jeweils drei Meiler.
6. Juni: Das Kabinett billigt das Atom- und Energiepaket.
15. Juni: Das dreimonatige Moratorium läuft offiziell aus.
25. Juni: Die Grünen entscheiden auf einem Sonderparteitag, den Atomausstieg bis 2022 im Bundestag mitzutragen.