Ermittlungspannen bei Neonazi-Mordserie Die Schuld der Behörden

Ermittlungspannen bei Neonazi-Mordserie: Die Schuld der Behörden
Foto: Wolfgang Kumm/ dpaBerlin - Drei Stunden waren angesetzt, am Ende wurden es mehr als vier. Selten hatte der Innenausschuss, mit knapp 40 Mitgliedern eines der wichtigsten Gremien des Bundestags, mit einer konfuseren Gemengelage zu kämpfen. Die Runde sollte Aufschluss über die Taten der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) bringen. Doch die Tür zum Sitzungssaal blieb bis zum späten Nachmittag geschlossen.
Als der Ausschussvorsitzende Wolfgang Bosbach (CDU) vor die Presse trat, sprach er von einer "erheblichen Krise des Vertrauens in den Verfassungsschutz". Man hätte die Mordserie wahrscheinlich verhindern können, so sein resigniertes Fazit. "In einem einzigen Tatkomplex eine solche Fülle von Fehleinschätzungen, das ist mir noch nicht begegnet". Bei einem "konsequentem Vorgehen" der Sicherheitsbehörden wäre es vielleicht nicht zu den Morden gekommen, sagte Bosbach. Stattdessen seien "unbedingt notwendige Handlungen" unterlassen worden.
Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm räumte vor den Parlamentariern eine "Niederlage der Sicherheitsbehörden" ein.
Zugleich wurden in den Ermittlungen zur beispiellosen Mordserie neue Details bekannt. Am potentiell brisantesten ist dabei wohl, dass der Polizistenmord von Heilbronn möglicherweise einen persönlichen Hintergrund haben könnte. Denn die Wege der ermordeten Michèle Kiesewetter und die eines mutmaßlichen Verdächtigen aus dem Umfeld der Zwickauer Zelle haben sich offenbar mehrfach in Thüringen gekreuzt.
Nach Informationen von SPIEGEL ONLINE ergibt sich für die Sicherheitsbehörden derzeit folgendes Bild:
- Kiesewetters Familie hatte vor, eine Gaststätte zu mieten. Die Lokalität wurde aber schließlich einem Mann, der mit dem Neonazi-Trio aus Zwickau in Verbindung gebracht wird, vermietet. Der mutmaßliche Unterstützer nutzte die Gaststätte für Versammlungen von Rechtsextremisten, sie diente aber auch zeitweise als Vereinszimmer für einen Motorradverein.
- Ein weiterer Anhaltspunkt: Familienangehörige des Mordopfers - die Großeltern und ein Onkel - wohnten in unmittelbarer Nähe der fraglichen Gaststätte.
- Schließlich: Auch die ermordete Polizistin Michèle Kiesewetter soll von Anfang 2000 bis 2003 direkt gegenüber der Gaststätte gelebt haben.
- Und: 2007 stellte ein Familienangehöriger der Polizistin in einer anderen Gaststätte einen Koch ein, der denselben Nachname trug wie die mutmaßliche Mittäterin der Zwickauer Zelle, Beate Zschäpe. Ob zwischen dem Koch und Beate Zschäpe eine verwandtschaftliche Beziehung besteht - darüber gibt es für die Sicherheitsbehörden bislang noch keine Erkenntnisse.
Es sind neue Ermittlungsstränge, die die Mitglieder des Innenausschusses im Bundestag bewegten. Doch handelt es sich bisher um Informationen, die Anlass für weitere Untersuchungen sind - und nicht um restlos ermittelte Belege.
Böhnhardt per Kopfschuss getötet
Die Mitglieder des Innenausschusses erfuhren am Montag noch andere Details der Polizeiarbeit von BKA-Chef Jörg Ziercke. Das Trio um Zschäpe und ihre beiden Mitstreiter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt verfügte nach bisherigen Ermittlungen über 19 Schusswaffen. Elf fanden sich in dem Haus, dass Zschäpe nach dem Freitod der beiden Männer in Zwickau anzündete, bevor sie sich schließlich stellte. Die übrigen Waffen hatten Mundlos und Böhnhardt bei sich, als sie sich in einem Wohnmobil bei Eisenach das Leben nahmen.
Auch was den Tod der beiden Männer angeht, gibt es einen bestätigten Ermittlungsstand. Demnach wurde Böhnhardt von Mundlos zunächst mit einem aufgesetzten Kopfschuss erschossen, danach setzte Mundlos das Wohnmobil in Brand und nahm sich anschließend mit der Waffe selbst das Leben.
Kreis der Verdächtigen ausgeweitet
Wie weit verzweigt die Gruppe in Zwickau war, wie viele Helfer sie hatte - das alles wird noch ermittelt. Die Kerngruppe, wie sie in Sicherheitskreisen genannt wird, umfasste offenbar nur Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Zum Umfeld zählen die Ermittler aber insgesamt neun weitere Verdächtige, von denen derzeit vier als Beschuldigte geführt werden. Es handelt sich um Personen, die dem Trio mit verschiedenen Diensten zu Hilfe waren - etwa indem sie Papiere, EC-Karten, Bahncards beschaffen halfen, bei der Produktion der Propaganda-DVD mitwirkten oder Fahrzeuge mieteten.
Insgesamt gab es rund 30 Anmietungen bei verschiedenen Unternehmen. Unklar ist bisher, ob es Mittäter bei den Banküberfällen oder der Beschaffung von Waffen des Trios gab. Von den DVDs mit Propagandamaterial, in denen die Morde an acht türkischen Männern und einem griechischen Mann verherrlicht werden, wurden acht in Umlauf gebracht.
Zehn-Punkte-Plan gegen Rechtsextremismus
Die Rätsel, die die Republik bewegen, sind auch eineinhalb Wochen nach Aufdeckung der Mordserie ungelöst: Wie konnten die Neonazis mehr als ein Jahrzehnt im Untergrund agieren? Wie viel Mittäter und Komplizen gab es - und sind möglicherweise noch immer Rechtsterroristen im Untergrund aktiv? Welche Fehler wurden in welcher Behörde von wem und wann begangen? Und: Was ist zu tun, um Ähnliches künftig zu verhindern?
Selbst wenn längst nicht alle Fakten bekannt und aufgeklärt sind - die politische Debatte um Konsequenzen läuft längst auf Hochtouren. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) legte am Montag einen Zehn-Punkte-Plan vor, mit dem rechtsextreme Gewalt aufgeklärt und bekämpft werden soll. Er sprach sich erneut dafür aus, den Verfassungsschutz auf Bundesebene zu stärken.
Das Bundesamt müsse auch bei der Bekämpfung des rechten Terrors "klar Federführung" erhalten, sagte Friedrich. Die Entscheidung müsse die Innenministerkonferenz treffen - diese wird Anfang Dezember zusammenkommen. Er kündigte zudem die Schaffung einer eigenen Abteilung Rechtsextremismus beim Verfassungsschutz an.
"In hohem Maße geschlampt"
Uneins waren sich die Parlamentarier darüber, ob ein Untersuchungsausschuss, ein Sonderermittler oder eine Expertengruppe eingesetzt werden soll. Der Ausschussvorsitzende Bosbach plädierte erneut dafür, die Verfassungsschutzämter der kleineren Länder zusammenzulegen.
Für einen Sonderermittler sehe er derzeit keinen Bedarf, sagte Bosbach. Er könne im Moment nicht erkennen, was ein Sonderermittler auf Bundesebene ermitteln könnte, was knapp 400 Kriminalisten, die zurzeit im Einsatz seien, noch nicht erkannt hätten, sagte er. Entsprechende Vorschläge hatten am Wochenende Politiker von Grünen und Linken gemacht.
Auch andere Koalitionspolitiker, wie etwa der CSU-Innenpolitiker Hans-Peter Uhl, äußerten sich zum Einsatz eines Untersuchungsausschusses oder Sonderermittlers eher skeptisch. "Wir haben genug Gremien", sagte Uhl am Rande der Sitzung zu SPIEGEL ONLINE. Man dürfe mit einem Ruf nach neuen Kompetenzen nicht vom eigentlich Kern des Problems ablenken: "Es wurde in hohem Maße geschlampt."