
FDP-Erfolg bei Erstwählern Spinnen die jungen Leute?


Selfie-Freund Lindner
Foto: Thilo Schmuelgen / REUTERSBis Sonntag dachte man, die jungen Leute von heute würden den ganzen Tag bei Fridays for Future rumspazieren. Aber fies geschnitten. Es ist nämlich so: Fast ein Viertel der Erstwählerinnen und Erstwähler hat bei der Bundestagswahl die FDP gewählt. Nur die Grünen waren hier ähnlich erfolgreich.
Ich kann mich gut an meine Zeit als Erstwähler erinnern. Damals erlag ich noch der Illusion, die Welt mit meiner Stimme zu einem friedlicheren Ort machen zu können oder wenigstens die Gesellschaft ein bisschen gerechter. Getreu dem alten Generationen-Gassenhauer: »Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch Kommunist ist, hat keinen Verstand.« Warum also sind die Erstwähler von heute so herzlos? Warum stimmen sie für Steuersenkungen und den ganzen Freier-Markt-Klimbim?

Der Ampelmann
Olaf Scholz hat gewonnen, aber die ersten Sondierungsgespräche werden ohne ihn geführt: Grüne und FDP führen sich auf, als wollten sie eine Koalition in der Koalition bilden und einen Kanzler von ihren Gnaden küren. Wie kann das erste Ampelbündnis auf Bundesebene funktionieren?
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Pädagogen, Soziologen, Psychologen und alle anderen Alt-68er verstehen ihre fein abgesteckte Welt nicht mehr. Dass die jeweils aktuelle Jugend immer die schlimmste aller Jugenden ist, ist ja eh klar – zumindest aus Sicht derer, die schon länger nicht mehr allzu jung sind. Als sie es waren, fanden sie sich nämlich gar nicht so schlimm. Aber was um Himmels willen ist mit dieser Jugend los, der Generation Chrissie?
Früher war das Milieu, das FDP wählte, klar umrissen. In der Regel besaß man entweder ein Hotel oder wenigstens eine Apotheke. Man war die Ehegattin eines Zahnarztes oder der Zahnarzt selbst. Die eigentliche Überschrift des Parteiprogramms lautete: »Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.«
Heute ist das anders. Lindner und Co., das muss man anerkennen, haben die Partei für neue Milieus geöffnet, gerade für Jüngere. Eine Generation, für die die Selbstinszenierung auf sozialen Netzwerken ein wesentlicher Teil des Daseins ist, hat im Verpackungskünstler Christian Lindner quasi ihren parlamentarischen Arm gefunden. Lindner hat schon Handy-Selfies gemacht, da war Instagram noch nicht erfunden und Robert Habeck noch mit der Polaroid-Kamera unterwegs. Lindner hat die Verhipsterisierung der Liberalen entscheidend vorangetrieben.
Eine Rolle mag auch die Aussicht aufs stressfreie Kiffen gespielt haben, die die FDP im Angebot hat. Oder ein gewisser Frust darüber, dass die Große Koalition ihre Interessen ignorierte, vor allem während der Pandemie. Jede abgeblasene Party, jede Polizeikontrolle im Park dürfte den Liberalen ein paar Neuwähler beschert haben. Wolfgang Kubicki ist ja auch heimlich in die Kneipe gegangen. Hinzu kommt: Nicht alle jungen Menschen sind mit dem Moralismus ihrer Greta-bewegten Altersgenossinnen einverstanden. Sie wollen auch besseren Klimaschutz – aber ohne chronische Zornesfalte in der Stirn. Ob das möglich ist? Die FDP kann dies nun beweisen. Sonst ist sie ihren Status als Erstwähler-Darling rasch wieder los.
Vielleicht sind die jungen Menschen von heute aber auch einfach schlauer als ihre Vorgängerinnen und Vorgänger. Sie ersparen sich den herkömmlichen Ernüchterungsprozess, den die meisten Idealisten durchlaufen, und wählen lieber gleich, was später ihrem Geldbeutel helfen wird. Immerhin hat diese Generation das satteste Erbe aller Zeiten zu erwarten. Es könnte sich also um die gewitzteste Generation überhaupt handeln.