Esther Bejarano: Sie überlebte den Todesmarsch vom KZ Auschwitz.
Foto: Axel Heimken/ dpaIn einem offenen Brief, der an Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) adressiert ist, fordert Esther Bejarano dazu auf, den 8. Mai zu einem Feiertag zu erklären. Ein solcher Feiertag könnte helfen, "zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes." Das sei "seit sieben Jahrzehnten" überfällig.
Die 95 Jahre alte Bejarano ist Ehrenvorsitzende eines antifaschistischen Verbandes und Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland. Sie selbst hat den Holocaust nur knapp überlebt. In ihrem Brief schreibt sie: "Wie viele andere aus den Konzentrationslagern wurde auch ich auf den Todesmarsch getrieben. Erst Anfang Mai wurden wir von amerikanischen und russischen Soldaten befreit." Sie konnte damals gemeinsam mit anderen Gefangenen fliehen. Viele andere KZ-Häftlinge starben während der oft wochenlangen Märsche an Hunger, Erschöpfung oder Kälte.
In ihrem Brief klagt Bejarano, nach der Befreiung habe es 1945 plötzlich keine Nazis mehr gegeben, "alle waren verschwunden", aber "die Gesichter der Todgeweihten, die in die Gaskammern getrieben wurden", seien geblieben. Man habe "das große Schweigen nach 1945 erlebt", erlebt wie "Nazi-Verbrecher" als "Richter, Lehrer, Beamte im Staatsapparat und in der Regierung Adenauer" davongekommen seien und daraus gelernt: "die Nazis waren gar nicht weg."
Weiter schildert sie, dass es für Überlebende wie sie unerträglich sei, "wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren." Deshalb müsse man entschlossen gegen Neonazis vorgehen.
Ein Feiertag am 8. Mai gäbe eine Gelegenheit, "über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit." Wenn das gelänge, könnte ein "Bundespräsident vielleicht irgendwann sagen: Wir haben aus der Geschichte gelernt. Die Deutschen haben die entscheidende Lektion gelernt."
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Dank der Musik überlebt: Esther Bejarano signiert am Rande der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin ihre 2016 erschienen Erinnerungen. Bejarano (eigentlich Esther Loewy) wurde am 15. Dezember 1925 in Saarlouis als jüngstes Kind eines jüdischen Oberkantors geboren. Vater und Mutter wurden 1941 in Kaunas ermordet, ihre Schwester bei ihrer Flucht in die Schweiz erschossen. Esther musste zunächst Zwangsarbeit leisten, 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert. Dort spielte sie.
"Mit der Mafia will ich nichts zu tun haben!" Esther Bejarano 2016 bei einem Auftritt mit der Kölner Hip-Hop-Gruppe Microphone Mafia. Ein Missverständnis stand am Anfang der musikalischen Zusammenarbeit zwischen der Auschwitz-Überlebenden und den Rappern: Eines Tages, erzählt Bejarano, habe ein Türke aus Köln angerufen und gesagt: Hallo, hier ist Microphone Mafia." Bejaranos Antwort: "Mit der Mafia will ich nichts zu tun haben!" Daraufhin habe Bandmitglied Kutlu Yurtseven gesagt:"Wir sind doch nicht die Mafia, wir haben nur den Namen, Microphone Mafia." Bejaranos Kommentar: "Das ist ja ein völlig bescheuerter Name." Yurtseven konnte sie damals dennoch für ein musikalisches Projekt gegen rechts gewinnen. Bis heute tritt Bejarano jährlich etwa 150 Mal mit der Microphone Mafia auf. Kutlu Yurtseven empfindet sie längst als ihren Enkel; stets dabei ist auch ihr Sohn Joram (Bildmitte).
Musik für Todgeweihte: Das Torhaus des KZ-Auschwitz-Birkenau (die Aufnahme entstand nach der Befreiung 1945). Obwohl Esther Bejarano gar kein Akkordeon spielen konnte, behauptete sie das in Auschwitz und wurde im Mädchenorchester aufgenommen - wohl nur dadurch überlebte sie. Bejarano musste für die ankommenden Deportierten spielen, die noch nichts von den Gaskammern wussten. "Sie dachten: Wo Musik spielt, kann es ja nicht so schlimm sein", berichtet Bejarano, die bei ihren Musik-Auftritten auch stets aus ihren Erinnerungen liest. "Das war mit das Schlimmste, was ich erlebt habe."
Aufspielen für die SS: Ein Häftlingsorchester des Zwangsarbeiterlager Lemberg-Janowska (Aufnahme 1941-1943). In einem ähnlichen, allerdings nur aus Mädchen bestehenden Orchester musste Esther Bejarano in Auschwitz auftreten. Dort tätowierte man der damals 18-Jährigen die Nummer 41948 in den Arm. Bejarano ließ die Nummer jedoch nach dem Krieg entfernen, weil sie es satt hatte, immer darauf angesprochen zu werden.
Lager und Todesmarsch überlebt: Gefangene flechten unter Aufsicht eines Kapo Strohmatten (aus einem SS-Fotoalbum, Aufnahme von 1941). Nach einem halben Jahr Auschwitz wurde Bejarano im November 1943 ins KZ Ravensbrück verlegt, wo sie weitere Zwangsarbeiten im Siemenslager leisten musste. Kurz vor Kriegsende wurde sie auf den Todesmarsch geschickt, konnte aber mit ihren Freundinnen fliehen.
"Nie wieder Krieg": Bejarano bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz 2016 in Berlin. Nach Kriegsende 1945 reiste sie zunächst nach Palästina aus, lernte ihren Mann kennen, bekam zwei Kinder. 1960 kehrte sie mit ihrer Familie nach Deutschland zurück und ließ sich in Hamburg nieder.
Am Ort der Bücherverbrennung: Esther Bejarano 2013 in Hamburg. Anlässlich des 80. Jahrestages der Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten lasen Schriftsteller und Passanten aus den einst verfemten Werken. Trotz ihres hohen Alters engagiert sich Bejarano bis heute gegen Antisemitismus und Rechtsradikalismus.
Ehrung in Hamburg: 2012 wurde Esther Bejarano mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Das Foto zeigt die Holocaust-Überlebende mit ihren Enkelkindern, Jonathan Bejarano (l.) und Anton Saefkow (r.) im Hamburger Rathaus.
Jubiläum: Peter Gingold, kommunistischer Widerstandskämpfer und einer der Sprecher der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund deutscher Antifaschisten), Esther Bejarano, seit 2008 VVN-Ehrenvorsitzende, und Schriftsteller Johannes Mario Simmel /v.l.) 1997 in Frankfurt beim Jubiläums-Festakt "50 Jahre Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes". Der VVN war am 15. März 1947 von 120 Delegierten in Frankfurt gegründet worden, um Wiedergutmachung und Entschädigung für Opfer aus der Nazizeit durchzusetzen. Kürzlich hat das zuständige Finanzamt Berlin der Organisation die Gemeinnützigkeit entzogen - und dafür viel Kritik geerntet.
"Wir leben ewig ": Bejarano bei einem Auftritt 2010 in Hamburg. Ihr Lieblingslied ist das jiddische "Mir lebn ejbig" (Wir leben ewig) - verfasst 1943 von Lejb Rosenthal im Wilnaer Ghetto. Übersetzt lautet der Text (Auszug): Wir leben ewig/Es brennt eine Welt/Wir leben ewig/Ohne einen Groschen Geld/Allen Feinden zum Trotz/Die uns anschwärzen/Wir leben ewig, wir sind da/Wir leben ewig in jeder Stunde/Wir wollen leben/Und erleben/Und schlechte Zeiten überleben/Wir leben ewig Wir sind da./"
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