EU-Debatte Warmlaufen für den Wahlkampf
Berlin - Eigentlich ging es um das Thema EU. Der Kanzler hatte am Morgen eine Regierungserklärung abgegeben, die Kanzlerkandidatin folgte mit einer Erwiderung. Und dann trat, als dritter, Franz Müntefering an das Mikrofon.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar: Der Wahlkampf beginnt auch in der Europapolitik. Der Sauerländer schaffte sogar das Kunststück, noch den Irakkrieg in die EU-Debatte einzuführen. "Die Haltung der CDU/CSU in der Irakfrage ist nicht vergessen", beschwor er seine Abgeordneten, warf dann Angela Merkel vor, sich damals "davongestohlen" zu haben, um schließlich seinen Angriff in dem Satz gipfeln zu lassen: "Frau Merkel, deutsche und europäische Interessen in der Welt zu vertreten, das können Sie nicht."
Der SPD-Parteichef schien am Donnerstag im Bundestag schon einmal Redeteile zu testen, die womöglich bis zu den Neuwahlen im September auf Marktplätzen der Republik zu hören sein werden. Von einer "famosen Opposition", sprach er, die sich bei "erstbester Gelegenheit in die Büsche schlägt", wenn es schwierig werde in der EU.
Wie ein Mantra wiederholte Müntefering seine Botschaft: Nur zwei Länder, Frankreich und die Niederlande, hätten in Referenden mit Nein gestimmt, in zehn Staaten hingegen habe die EU-Verfassung Zustimmung erhalten. "Sie wollen", rief er der Union entgegen, "die Diffamierbarkeit von Fremdenfeindlichkeit im kommenden Wahlkampf nutzen".
Über der Debatte lag eine nervöse Spannung. Zwischenrufe, Gelächter aus der SPD-Fraktion begleiteten weite Teile von Merkels Ausführungen. Als sie dann noch den niederländischen Schriftsteller Leon de Winter mit dem Satz zitierte, die Bürger seines Landes hätten mit Nein gestimmt, um die EU zu schützen, war bei einigen Abgeordneten der SPD kein Halten mehr. Merkel, im dunklen Hosenanzug gekleidet, blieb kühl: Sich über die Köpfe der Menschen hinweg zu setzen habe noch nie ein politisches Problem gelöst.
Gauweiler in bester Laune
In den Reihen der Union war an diesem Tag ein freudiges Gesicht nicht zu übersehen: das von Peter Gauweiler. Seine Klage gegen die EU-Verfassung in Karlsruhe hatte am Vorabend die Schlagzeilen beherrscht, als bekannt wurde, dass der Bundespräsident so lange das EU-Verfassungsgesetz nicht unterschreibt, bis das Verfahren höchstrichterlich entschieden ist. Der CSU-Politiker wurde von einzelnen Unionsabgeordneten freundlich mit Klaps begrüßt - von einigen, die zur Gruppe der 20 in CDU und CSU gehörten, die im Bundestag gegen die Verfassung gestimmt hatten.
In den Reden wurde auf Gauweilers Klage nicht eingegangen. Die CDU-Chefin erinnerte nur noch einmal daran, dass die Unionsfraktion am 12. Mai im Bundestag "mit großer Mehrheit" für die Verfassung gestimmt hatte. Und daran, dass sie am selben Tag auch über die Probleme der Vertiefung und Erweiterung gesprochen habe. Sie vermisse beim Kanzler "Mut und Entschlossenheit", auf die jüngste Krise zu reagieren, hielt sie Schröder vor. Die Union sei der Ansicht, wenn sich alle EU-Staaten darauf einigten, dass die Ratifizierung weitergehen solle, "dann soll sie weitergehen". Doch habe Schröder kein Wort darüber verloren, was in dem Falle geschehe, "wenn einige Länder das nicht wollen".
Wie auch im Mai, so beherrschte auch diesmal die Frage der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einen Teil der Aussprache. "Unverantwortliche Außenpolitik, Herr Bundeskanzler", so Merkel, sei es, mit Ankara möglicherweise 15 Jahre zu verhandeln, wissend, dass am Ende in einigen Ländern der EU gegen einen Beitritt gestimmt werde. Die CDU-Vorsitzende plädierte erneut für die von der Union vorgeschlagene privilegierte Partnerschaft - allerdings mit einer feinen Nuance. Dass man geschlossene Verträge einhalten müsse, wisse die Union, aber dass die privilegierte Partnerschaft "bessere Variante" sei, diese "Haltung" werde man nicht aufgeben. Auch sprach sich Merkel in ihrer Rede nicht gegen den Termin für den Beginn der Beitrittsverhandlungen, den 3. Oktober, aus. Sie müsse aber alle Vorbedingungen erfüllen. Eine Position, die offenbar mit der CSU abgestimmt ist. Denn am Donnerstag hatte zwar auch Edmund Stoiber im belgischen Meise erneut eine Debatte über einen Türkei-Beitritt angemahnt, zugleich aber den 3. Oktober nicht in Frage gestellt.
"Der will es noch einmal wissen"
Wer einen müden Kanzler erwartet hatte, sah sich getäuscht. Fast ohne auf sein Manuskript zu blicken, hielt er seine Rede. "Der will es noch einmal wissen", sagte danach ein CDU-Bundestagsabgeordneter anerkennend, ohne genannt werden zu wollen. Auch einen angeschlagenen Schröder werde man nicht unterschätzen.
Süffisant erinnerte Schröder beim Thema Briten-Rabatt daran, dass es 1984 nicht die Sozialdemokraten gewesen seien, die damals an der Macht waren. Vom britischen Premierminister Tony Blair forderte er Beweglichkeit, um dann selbst in eine Art Vorwahlkampf überzuwechseln. Die Opposition habe ihm ja gelegentlich vorgeworfen, zur EU kein emotionales Verhältnis zu haben. Zustimmende Rufe aus der Union und der FDP waren ihm an dieser Stelle sicher. "Ja, ja", antwortete Schröder, "aber in der Krise zeigt sich, wer steht und wer nicht steht."
Als er das gesagt und sich damit selbst zum Fels in der Brandung stilisiert hatte, rief ein SPD-Abgeordneter so laut "Ja" aus, dass auf den Tribünen die Gäste erschrocken nach unten blickten und nach der Ursache des Schreis suchten. Es schien, als habe der Rufer auf ein solch kämpferisches Signal des SPD-Frontmannes nur gewartet. Lange fiel auch der anschließende Applaus der Fraktion aus.
Schröder gegen Merkel, Müntefering gegen Merkel - das war das Spiel der SPD an diesem Tag. Auffallend zurückhaltend waren dagegen die Grünen, von der SPD nach der Neuwahl-Entscheidung zuletzt hart angegangen. Schröder wie auch Müntefering griffen tief in die Trickkiste der erfahrenen Wahlkämpfer: Ob es stimme, wollte Schröder von Merkel wissen, was ein britischer Zeitungsbericht melde, dass sie Blair bei einem Gespräch Hoffnungen für den Erhalt des Briten-Rabatts gemacht habe? Damit hätte sie ja dann dem luxemburgischen Ratspräsidenten Jean-Claude Juncker und Deutschland "einen Bärendienst" erwiesen. "Es wäre gut, wenn Sie sich in aller Klarheit dazu äußern würden", so Schröder.
Attacke gegen Merkel: "Sie sind durchgefallen"
Im Verlauf der Debatte stand dann auch noch der SPD-Außenpolitiker Gert Weisskirchen, ansonsten eher ein Mann der besonnenen Art, zu einer Kurzintervention von seinem Platz auf und warf Merkel vor, in ihrer Rede "keinen weiterführenden Gedanken" zur EU vorgebracht zu haben. "Jede Antwort war nichts. Sie sind durchgefallen", rief Weisskirchen aus und durfte sich des Jubels der SPD-Abgeordneten sicher sein.
Die Linie der SPD an diesem Tag war klar und allzu durchschaubar: Merkels außenpolitische Kompetenz in Frage zu stellen. Selbst in dem Glückwunschreiben Münteferings am selben Tag zum 60. Geburtstag der CDU klang das noch durch: Helmut Kohl, so der Sozialdemokrat, sei ein überzeugter und begeisterter Europäer gewesen, der entschlossen den Moment nutzte, als sich die historische Chance der Wiedervereinigung bot. "Es ist ein großes Erbe, mit dem Sie heute umgehen müssen", lautete der fast altväterliche Rat im Schreiben an die "sehr verehrte Frau Dr. Merkel".
Merkel selbst ließ die Angriffe der SPD an sich abtropfen. Auf die Frage, was sie Blair nun im Einzelnen gesagt hatte, ließ sie sich gar nicht ein. Doch den Vorwurf, deutsche Interessen nicht zu vertreten, die die Attacke des Kanzlers unterstellte und die Müntefering später im Zusammenhang mit dem Irak-Vorwurf noch einmal erheben sollte, traf sie offenbar doch. Sie sei, rief Merkel, dafür "zu sehr eine gute Deutsche", als dass sie nicht auch sage, dass sich auch die Briten "bewegen müssen".