EU-Gipfel Merkels Baustellen-Vermächtnis

Die Staats- und Regierungschefs debattierten beim EU-Gipfel nach einem Appell Angela Merkels gesittet, aber ergebnislos über Polen. Ihrem Nachfolger hinterlässt sie viele Probleme – eines hat mit Atomkraft zu tun.
Von Ralf Neukirch, Brüssel
Merkels wohl letzter EU-Gipfel als Kanzlerin: »War's das?«

Merkels wohl letzter EU-Gipfel als Kanzlerin: »War's das?«

Foto: POOL / REUTERS

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Als sich Angela Merkel auf ihrem vermutlich letzten EU-Gipfel von ihren 26 Kollegen und Kolleginnen verabschiedete, gab es in Brüssel einen ungewöhnlichen Moment: Die Kanzlerin soll sichtbar bewegt gewesen sein, berichten Teilnehmer der Runde. Das erlebt man bei Merkel nicht oft.

Ratspräsident Charles Michel sagte, ein Gipfel ohne Merkel sei wie Paris ohne den Eiffelturm. Und der frühere US-Präsident Barack Obama dankte ihr in einer Videobotschaft dafür, dass sie »die Mitte in vielen Stürmen verteidigt habe«.

Auch sonst war es ein passender Abschied für Merkel: Die Union ist wieder einmal in einer Krise, wie so oft in ihrer Amtszeit. Die Energiepreise steigen, in Polen zerfällt der Rechtsstaat, mancherorts in der EU wird mit Flüchtlingen unmenschlich umgegangen. All das droht die Gemeinschaft zu spalten. Ein Fall für die »Kompromissmaschine« Merkel, wie der luxemburgische Premier Xavier Bettel sie nannte.

Die EU reagierte wie so häufig in schwierigen Situationen unter Merkels Führung. Sie vertagte sich.

Über die Lage in Polen hätten viele Staats- und Regierungschefs am liebsten gar nicht erst gesprochen. Doch spätestens, nachdem der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki am Dienstag im Europäischen Parlament die europäische Rechtsgemeinschaft infrage gestellt hatte, war klar, dass daraus nichts werden würde.

Die Niederlande führen die Attacke gegen Polen an

Der niederländische Premierminister Mark Rutte wies auf die Möglichkeiten des neuen Rechtsstaatsmechanismus hin. Dieser würde es erlauben, Polen und anderen Ländern Geld aus dem EU-Haushalt vorzuenthalten. Morawiecki verteidigte sich, andere forderten die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards.

Immerhin: Die Debatte verlief nach Angaben aus EU-Kreisen deutlich zivilisierter als im Juni. Damals hatte Rutte dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán nahelegt, wegen der homophoben Gesetzgebung seines Landes die EU zu verlassen. Zur Beruhigung trug nun möglicherweise bei, dass Ratspräsident Charles Michel die Debatte über Polen unmittelbar vor das Abendessen gelegt hatte. Das mag dazu geführt haben, dass die hungrigen Teilnehmer der Runde ein Interesse daran hatten, nicht zu lange zu debattieren.

Merkel (M.) mit Morawiecki, von der Leyen, Macron und Orbán: Man spricht noch miteinander

Merkel (M.) mit Morawiecki, von der Leyen, Macron und Orbán: Man spricht noch miteinander

Foto: John Thys / AP

Vielleicht hat aber eher Merkels Appell gewirkt, weiter im Dialog zu bleiben. Die Kanzlerin stellte sich zwar hinter die Entscheidung von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, Polen zunächst kein Geld aus dem Corona-Hilfsfonds auszuzahlen.

Merkel betonte aber auch, der Umgang mit Warschau sei nicht nur ein juristisches Problem, sondern eine politische Aufgabe. Schon beim Treffen der Staats- und Regierungschefs der konservativen EVP unmittelbar vor dem Gipfel hatte sie gesagt, es komme auf die »Tonalität« an.

Die Sache liegt nun bei von der Leyen. Ginge es nach dem Europäischen Parlament, müsste sie sofort ein Verfahren gegen Warschau nach dem seit Jahresbeginn geltenden Rechtsstaatsmechanismus einleiten. Ziel wäre es, weitere Milliarden aus dem Haushalt nicht an Polen auszuzahlen.

Beweise gegen Ungarn, aber nicht gegen Polen

Brüssel will solche Verfahren erst nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) eröffnen, das für Dezember erwartet wird. Allerdings ist das nach dem Verständnis der Kommission nur möglich, wenn es unmittelbare Hinweise darauf gibt, dass Polen EU-Gelder zweckentfremdet.

Die Kommission glaubt, im Fall von Ungarn genügend Belege dafür gesammelt zu haben. Damit könnte nach dem EuGH-Urteil ein sogenannter Blauer Brief nach Budapest verschickt werden. Für Polen und andere Länder reichen die Belege dagegen nach Ansicht der Behörde derzeit nicht aus.

Die Atomkraft könnte ein Comeback in Europa feiern

Die Atomkraft könnte ein Comeback in Europa feiern

Foto: Julian Stratenschulte / dpa

Während der Gipfel beim Thema Polen im Sinne Merkels verlief, war das bei der Energiepolitik nicht der Fall. Die Situation ist ähnlich kompliziert, die Lage aber deutlich dringlicher.

Im Kern geht es um die Frage, wie die EU mit den hohen Energiepreisen  umgehen soll, die für viele Bürgerinnen und Bürger im Winter ein ernstes Problem zu werden drohen. Kurzfristig muss jedes Land sich um die eigene Bevölkerung kümmern. Aber wie soll die EU mittel- und langfristig reagieren?

Während Deutschland und die Mehrheit der Mitgliedstaaten die hohen Preise für ein vorübergehendes Phänomen halten, glauben Länder wie Frankreich oder Spanien, dass es Zeit für Preiskontrollen und andere Markteingriffe ist. Polen und andere osteuropäische Länder stellen zudem gleich die anspruchsvollen Klimaziele der EU und den Emissionshandel infrage.

Das alles soll wieder auf dem nächsten Gipfel im Dezember behandelt werden. Dann wird Merkel aller Voraussicht nach nicht mehr Deutschland vertreten – es sei denn, die Ampelverhandler in Berlin halten ihren Fahrplan nicht ein, in der Nikolaus-Woche Olaf Scholz zum Kanzler zu wählen. Ob Merkel oder nicht, in einem Punkt könnte es für Deutschland schon vorher schwierig werden.

Comeback für die Atomkraft?

Es geht dabei um die sogenannte Taxonomie. Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich eine geplante EU-Verordnung mit weitreichenden Folgen. Sie soll grüne Finanzprodukte auflisten, mit denen die Klimaziele der Kommission erreicht werden können.

Auf dem Gipfel zeichnete sich überraschend eine Mehrheit dafür ab, auch die Atomkraft als Übergangsenergie aufzunehmen. Dafür plädierte zum Erstaunen der Deutschen auch der Niederländer Rutte. Diese Position sei mehrheitsfähig, heißt es aus Teilnehmerkreisen.

»Die Baustellen für meinen Nachfolger sind groß.«

Kanzlerin Angela Merkel nach dem EU-Gipfel

Nur Deutschland, Luxemburg und Österreich stemmten sich demnach ausdrücklich gegen das Comeback der Atomkraft.

Entscheiden muss nun die Kommission, nach dem Willen der meisten Staaten bereits im November. Ihre Empfehlung kann nur durch eine qualifizierte Mehrheit im Rat abgelehnt werden. Die scheint es derzeit gegen die Atomkraft nicht zu geben.

Für Merkels mutmaßlichen Nachfolger Olaf Scholz wäre das kein schöner Einstand in die europäische Gipfeldiplomatie. Die Kanzlerin hatte ihrem Noch-Finanzminister wenig Tröstliches mit auf den Weg zu geben: »Die Baustellen für meinen Nachfolger sind groß«, sagte sie.

Dann erhob sie sich, um Brüssel wohl zum letzten Mal als Kanzlerin zu verlassen. »War's das?«, fragte sie.

Das war's.

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