Erster EU-Gipfel mit Olaf Scholz Mit geballter Faust

Drohungen gegen Russland, Druck auf Herkunftsländer von Migranten: Die EU gab sich beim ersten Gipfel mit Kanzler Scholz nach außen kraftvoll, nach innen zerstritten. Dafür gab es ein symbolträchtiges Finale.
Von Markus Becker, Brüssel
Foto: JOHN THYS / AFP

Das Bild des Gipfels entsteht erst nach dessen Ende. Als Kanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ihre gemeinsame Pressekonferenz beendet haben, stehen sie auf, grinsen sich an und stoßen die Fäuste zusammen. Es wirkt nicht wie ein Abschiedsgruß, sondern eher wie die Geste nach einem hart errungenen Sieg auf dem Fußballplatz.

Es ist ein symbolträchtiger Auftritt. Üblicherweise halten die Staats- und Regierungschefs nach EU-Gipfeln ihre Pressekonferenzen allein ab, auch um ungestört von anderen Sichtweisen zum heimischen Publikum zu sprechen. Dass Scholz das nun gleich bei seinem Debüt gemeinsam mit Macron auftritt, ist ein deutliches Signal, wem in der EU sein größtes Interesse gilt – und was er mit Macron erreichen will.

Das lässt sich in etwa so zusammenfassen: Die EU soll nach außen deutlich stärker werden, sowohl in der Sicherheits- als auch in der Migrations- und Wirtschaftspolitik. Der Gipfel hat aber auch gezeigt, dass die EU sich dabei vor allem selbst im Weg steht.

EU droht Putin mit »massiven Konsequenzen«

Das wurde gleich beim vielleicht brisantesten Thema deutlich, dem Ukrainekonflikt. Es sei »von allergrößter Bedeutung«, dass Grenzen in Europa unangetastet bleiben, sagt Scholz. Darin seien sich alle EU-Staaten einig, »und wir uns ganz besonders«, sagt er und wirft Macron einen Blick zu. Wer Grenzen verletzt, müsse »mit entsprechenden Reaktionen rechnen«.

Wie sie aussehen, steht im Gipfel-Kommuniqué: »Jede weitere militärische Aggression gegen die Ukraine wird massive Konsequenzen und hohe Kosten zur Folge haben«, heißt es, darunter »mit Partnern koordinierte« Sanktionen. Letzteren Halbsatz haben die Staats- und Regierungschefs während des Gipfels hinzugefügt und damit ihre Drohung in Richtung des russischen Präsidenten Wladimir Putin nochmals angeschärft.

Was genau damit gemeint ist, bleibt unklar. Als möglich gelten ein Betriebsstopp der Gaspipeline Nord Stream 2 oder gar ein Ausschluss Russlands aus dem Zahlungsverkehrssystem Swift, was wahrscheinlich verheerende Folgen für Russlands Wirtschaft hätte. Details aber lassen die EU-Spitzen mit voller Absicht offen, wie Diplomaten erklären. Man wolle Putin bewusst im Unklaren darüber lassen, welche Strafmaßnahmen man im Detail plane – schon um zu verhindern, dass er vorab Gegenmaßnahmen ergreift.

Ukrainischer Soldat: EU fürchtet Invasion Russlands

Ukrainischer Soldat: EU fürchtet Invasion Russlands

Foto: Andriy Dubchak / dpa

Zugleich sollen die Gespräche mit Moskau weitergehen, und auch hier suchen Scholz und Macron den Schulterschluss – mit dem Segen der anderen Staaten. In der Gipfel-Erklärung heißt es, die EU unterstütze das sogenannte Normandie-Format und »die vollständige Umsetzung« der Minsker Abkommen. Im Normandie-Format – »in dem Deutschland und Frankreich so verbunden sind« (O-Ton Scholz) – vermitteln Paris und Berlin seit Jahren zwischen der Ukraine und Russland, wenn auch mit überschaubarem Erfolg: Derzeit droht der Konflikt dramatisch zu eskalieren , Russland hat nach Nato-Angaben 75.000 bis 100.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze zusammengezogen.

Stundenlange Energiepreis-Debatte endet ergebnislos

Das Problem aber ist hier wie auch in anderen Bereichen die Zerstrittenheit der EU-Länder in anderen Fragen, wie etwa in der Energiepolitik. Stundenlang debattierten die Staats- und Regierungschefs am Nachmittag über die explodierenden Energiepreise. Während etwa Spanien Änderungen an den Regeln des EU-Energiemarkts verlangt, machen Polen und auch Ungarn das CO₂-Emissionshandelssystem der EU für die Misere verantwortlich: Es führe zu Spekulationen am CO₂-Markt und treibe so die Energiepreise in die Höhe. Die Bundesregierung findet jedoch, dass es dafür keinerlei Anzeichen gibt.

EU-Ratspräsident Charles Michel brach die Debatte nach drei Stunden vorerst ab, um sie am Ende des Gipfels wieder aufzunehmen. Bis dahin sollten Fachleute hinter den Kulissen einen Kompromiss ausloten – was gründlich misslang. Die 27 Staats- und Regierungschefs konnten sich am Ende nur darauf einigen, dass keine Einigung möglich ist.

Eine Rolle spielte dabei immer wieder auch Nord Stream 2. Vor allem Polen und einige andere osteuropäische Länder fordern das Ende der Pipeline, die Gas von Russland nach Deutschland bringen soll – unter Umgehung der Ukraine. Scholz konterte nach dem Gipfel kühl, es handle sich um ein »privatwirtschaftliches Vorhaben«, das so weit gediehen sei, »dass da jetzt eine genehmigte Pipeline liegt«. Nun müsse nur noch eine deutsche Behörde »ganz unpolitisch« entscheiden, ob die Pipeline auch EU-Recht entspricht.

Lettlands Regierungschef Krišjānis Kariņš sagte dagegen, Putin nutze die Erdgasleitung zur »Erpressung« der EU, während Finnlands Regierungschefin Sanna Marin mahnte, »die Energiepolitik aus dem Konflikt herauszuhalten«.

Die Gasröhre wirft damit ein Schlaglicht auf das Dilemma der EU: Ihre inneren Probleme bremsen ihre Ambitionen, nach außen kraftvoll aufzutreten. Das aber will die EU unbedingt, wie sich beim Gipfel auch an anderer Stelle zeigte.

Um wachsender Instabilität, schärferem globalen Wettbewerb und komplexen Bedrohungen zu begegnen, werde die EU »mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit und Verteidigung übernehmen«, heißt es in der Gipfelerklärung. Dafür sollen »zivile und militärische« Instrumente genutzt werden, die EU-Kommission soll zudem Vorschläge in den Bereichen Weltraumsicherheit, Cyber und im Kampf gegen hybride Bedrohungen vorlegen. Das Endziel heißt »strategische Autonomie«.

Uneinigkeit über die Zukunft der EU

Dafür aber müsste die EU wahrscheinlich auch ihre Entscheidungsstrukturen reformieren – und etwa den Zwang zur Einstimmigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik abschaffen, so wie es auch die neue Außenministerin Annalena Baerbock fordert.

Das Problem: Auch das würde einen einstimmigen Beschluss erfordern, und diverse Länder halten wenig davon, Macht nach Brüssel abzugeben. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán warf der Bundesregierung in der »Bild«-Zeitung vor, sich vom »Europa der Vaterländer« des früheren Kanzlers Helmut Kohl zu entfernen und stattdessen eine »migrations- und genderfreundliche, deutsch geprägte, zentralistische Politik aus Brüssel« zu verfolgen.

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Polens Regierungschefs Mateusz Morawiecki griff ausgerechnet bei Scholz' Antrittsbesuch in Warschau gar zu einem nationalsozialistisch belasteten Begriff: Das Bekenntnis der Ampelkoalition, die EU zu einem föderalen Bundesstaat zu entwickeln, sei ein Versuch der »Gleichschaltung«.

Immerhin bei einem Thema kann die EU sich nach außen tatkräftig zeigen, ohne zu streiten: Wenn es um die Abschiebung nicht anerkannter Asylbewerber geht.

Für deren Rückführung in die Herkunftsländer soll der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nunmehr »zügig« sorgen, heißt es im Gipfeldokument. Dafür soll der Spanier alle verfügbaren Instrumente der EU »als Druckmittel« einsetzen – darunter Entwicklungshilfe sowie die Handels- und Visumspolitik. Die Botschaft an bisher nicht kooperationsbereite Herkunftsländer: Wer nicht zur Rücknahme seiner Staatsbürger bereit ist, verliert Geld.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, dass Ex-Kanzlerin Angela Merkel zuletzt vor viereinhalb Jahren nach einem EU-Gipfel eine gemeinsame Pressekonferenz mit Emmanuel Macron abgehalten habe. Dies ist nicht korrekt, der letzte Auftritt dieser Art fand im Juli 2020 statt.

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