EU in der Krise Ach, Europa!

Kanzlerin Merkel: Eine eigene Währung - und dann blieb die europäische Idee stecken
Foto: Rainer Jensen/ dpaEuropa unsterblich zu machen, ist eine sehr alte Idee: Zeus, Vater aller griechischen Götter, war nach einem Treffer von Eros' Bogen in glühender Liebe zu der phönizischen Königstochter Europa entbrannt. Als er später erkannte, dass seine Geliebte den Weg alles Irdischen gehen würde, benannte er einen Kontinent nach ihr und rief aus: "Unsterblich sollst Du künftig sein, Europa; denn der Erdteil, der dich aufgenommen hat, soll für alle Zeit deinen Namen tragen."
Unsterblich sollst du sein, Europa? Die aktuelle zeigt: So einfach ist die Sache auch wieder nicht.
"Ach, Europa," seufzte vor Jahren Hans Magnus Enzensberger auf dem Titel eines Buches, in dem sieben "Wahrnehmungen", fiktive Länderreportagen, zusammengefasst waren. "Ach, Europa" muss heute jeder seufzen, der sich als Europäer versteht und der das politische Europa für die entscheidende Idee der vergangenen 50 Jahre hält.
Ich bin so einer. Ich bin so ein - von mir aus - Idealist, der immer an die europäische Idee geglaubt hat und das auch weiter tun will. Es war und ist weiter bestechend, dass dieser Kontinent seine Kräfte, seine ökonomischen, seine politischen, auch seine militärischen, bündeln muss und dass die Länder, die ihn bilden, mehr verbindet als trennt.
Kann man Europa überhaupt erleben? Denn die Abwesenheit von Krieg, mehr als ein halbes Jahrhundert lang, die größte Errungenschaft dieses Europas, ist gerade kein Erlebnis - und also nimmt man sie - als Nachgeborener des Zweiten Weltkriegs - viel selbstverständlicher als sie ist.
Endlich, der Euro!
Ja, ich habe Europa erlebt. Ich habe Europa erlebt, als ich für ein Studienjahr nach Metz gegangen bin und dort im Germanistischen Seminar der Universität französische Studenten kennengelernt habe. Wir haben nach Gemeinsamkeiten gesucht und nach Unterschieden, beides haben wir gefunden, und wir haben geredet und geredet. Sie Französisch, ich Deutsch, und wir haben uns trotzdem verstanden. Das ist Europa.
Später habe ich gelitten in Großbritannien, eine Insel, die ich liebe, deren Euro-Phobie mich aber ratlos macht. Nicht der Irak-Krieg war das eigentliche Versagen Tony Blairs, der sich doch vorgenommen hatte, Großbritannien endlich und unumkehrbar nach Europa zu führen. Das war sein eigentliches Versagen. Wutschnaubend las ich vor Jahren das Buch des früheren Economist-Chefredakteurs Bill Emmott, der in seiner Vision 2021 der eine schwächliche Zukunft prophezeite und den Euro zu einem Übergangsphänomen erklärte.
Am Rand des inzwischen sieben Jahre alten Buches finden sich empörte Anmerkungen, "So ein Schwachsinn!", "Das werden wir ja sehen!", "Unerhört!" Ich war mir sicher, dass Emmott alsbald bereuen würde, was er da aufgeschrieben hatte, und ich war fest davon überzeugt, dass Großbritannien sich nach einigen Jahren der Erfolgsgeschichte der Einheitswährung dieser anschließen würde - aus utilitaristischen Gründen, nicht aus Leidenschaft.
Beruhigt war ich, als vor neun Jahren der Euro physisch eingeführt wurde und der "D-Mark-Patriotismus", den Jürgen Habermas einmal diagnostiziert hatte, nicht in Hass auf die neue Währung umschlug. Man hatte den Leuten zwar Sand in die Augen gestreut mit dem Gerede davon, wie schön das doch jetzt sei, wenn man ohne Devisen in den Urlaub fahren könne, eine sehr läppische vordergründige Argumentation für den Umstand, dass seinerzeit elf Pionierländer innerhalb der Europäischen Union mit der nationalen Währung einen wesentlichen Bestandteil nationaler Souveränität abgaben. Alle Redaktionen bereiteten sich zum Jahreswechsel 2001/2002 auf die großen Revolten vor. Sie blieben aber aus.
Das Haus wurde größer - und immer wackliger
Seither, also seit Helmut Kohl, hat sich niemand mehr getraut, Europa weiterzuentwickeln, wesentliche Souveränitäten an die europäische Ebene abzugeben. Nach der gemeinsamen Währung hätte zum Beispiel unweigerlich das Ziel einer gemeinsamen Armee ausgerufen werden müssen, nicht als Utopie oder Wunsch oder Vision, sondern als festes Ziel.
Vielmehr nahm seit Maastricht der Verfall Europas seinen Lauf. Das Haus wurde größer und größer - und dabei immer windschiefer und wackliger. Es wurde angebaut und angebaut, obwohl die Statik überhaupt keine Anbauten zuließ.
Also verfielen Politiker in ihrer Not darauf, wahlweise ein Europa der zwei Geschwindigkeiten auszurufen oder sich, wie Wolfgang Schäuble und Karl Lamers 1994 ein ambitioniertes Kerneuropa zu schaffen, dem die Langsamen dann schon folgen würden.
Ein Armutszeugnis war das schon, und längst Realität: Die Grenzenlosigkeit, für die der Name des kleinen luxemburgischen Winzerdorfes Schengen steht, haben anfangs nur acht Länder Wirklichkeit werden lassen, der Euro trennt die EU in Teilnehmer und Fernbleiber. Das potentiell starke Europa ist ein bürokratisches Monstrum und eine Fehlkonstruktion geworden. Daran ändert auch die neue gemeinsame Außenpolitik nichts. Sie gibt Europa nicht die eine Telefonnummer, die sich Kissinger einst wünschte, sondern fügt den vielen bestehenden Durchwahlen noch weitere hinzu.
Die Verfassung scheiterte - seither geht es bergab
Joschka Fischer, der nach Helmut Kohl wohl glühendste Europäer in Deutschland, hat es vor genau zehn Jahren einmal versucht, mit seiner Rede von der Finalität Europas die Sache wieder in die richtige Richtung zu lenken. Die Rede, die er unter mehrfachen rhetorischen Verrenkungen halten musste, ist bis heute lesenswert - und ein trauriges Dokument der europäischen Geschichte.
Als einen Zwischenschritt hin zur Vollendung der politischen Union bezeichnete Fischer seinerzeit einen neuen Staatenvertrag, "den Nukleus einer Verfassung der Föderation". Auf der Basis dieses Grundvertrages könnte die Föderation "sich eigene Institutionen geben, eine Regierung, die innerhalb der EU in möglichst vielen Fragen für die Mitglieder der Gruppe mit einer Stimme sprechen sollte, ein starkes Parlament, einen direkt gewählten Präsidenten. Ein solches Gravitationszentrum müsste die Avantgarde, die Lokomotive für die Vollendung der politischen Integration sein und bereits alle Elemente der späteren Föderation umfassen".
Dieser Versuch, die Verfassung, scheiterte bekanntlich in . Seither geht es mit Europa bergab. Statt nun eine gemeinsame Armee zu schaffen, muss Europa darum bangen, die gemeinsame Währung zu behalten. Europa könnte dort enden, wo es angefangen hat, in . Bill Emmotts Buch liest sich heute wie eine frühe Prophezeiung. Entweder Europa begreift diese existentielle Krise als Chance, jahrelange Versäumnisse nachzuholen, oder diese potentielle Weltmacht geht in die Geschichte der Imperien ein als die erste, die schon unterging, bevor sie zu einer aufgestiegen war.
Es gibt Grund, sich große Sorgen um Europa zu machen. Denn Europa ist so sterblich wie eine phönizische Königstochter.
