EU-Sozialkommissar über EU-Jugendarbeitslosigkeit "Dann fliegt uns Europa auseinander"

Am Coronavirus sterben meist die Alten, die wirtschaftlichen Folgen treffen vor allem die Jungen. EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit fürchtet eine "Lost Generation".
Ein Interview von Markus Becker und Peter Müller, Brüssel
EU-Sozial- und Arbeitskommissar Nicolas Schmit

EU-Sozial- und Arbeitskommissar Nicolas Schmit

Foto: Dati Bendo/ dpa

Große Teile der Weltwirtschaft wurden stillgelegt, um die Ausbreitung des Coronavirus zu bremsen. Die wirtschaftliche Last tragen vor allem die jüngeren Generationen: Sie können nicht mehr zur Schule gehen, verlieren ihre Jobs oder gehen in Kurzarbeit, sehen ihre Karrierechancen geschmälert.

Zusätzlich müssen sie die Schulden abtragen, die jetzt angehäuft werden, um die Volkswirtschaften rund um den Globus wieder in Gang zu setzen. Auch die Folgen des Klimawandels werden sie schultern müssen. Und am Ende ihres Arbeitslebens winken nur noch Minirenten, da immer mehr Ruheständler auf immer weniger Arbeitnehmer kommen.

Die EU-Kommission stellt an diesem Mittwoch ein Unterstützungsprogramm für die Beschäftigung junger Menschen vor. Die Mitgliedsländer sollen mindestens 22 Milliarden Euro investieren.

Im Interview warnt EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit, 66, vor einer verlorenen Generation durch die Coronakrise - und wirbt für ein neues Gleichgewicht zwischen Jung und Alt.

SPIEGEL: Herr Schmit, kommende Woche diskutieren die Staats- und Regierungschefs erstmals wieder persönlich über den EU-Haushalt und das Wiederaufbauprogramm mit dem Namen "Next Generation EU". Heißt das so, weil die nächste Generation das Geld zurückzahlen muss, dass wir jetzt ausgeben?

Schmit: Diese Frage stellt sich eigentlich so nicht. Man muss sich vielmehr fragen: Was passiert mit dieser Generation, wenn wir nichts tun? Sollen wir sie einfach abschreiben und sagen: Pech gehabt, ihr kommt halt zu einem schlechten Zeitpunkt auf den Arbeitsmarkt? Mit dem Geld aus dem Wiederaufbaupaket wollen wir Strukturen für die Zukunft festigen - auch für die nächste Generation. Natürlich muss das Geld irgendwann zurückgezahlt werden, hoffentlich mithilfe einer dann wieder stärkeren Wirtschaft. Aber wenn wir jetzt nichts tun, droht die EU insgesamt in eine Stagnation zu geraten. Und dann können keine Schulden mehr beglichen werden, auch die bisherigen nicht.

"Sollen wir sie einfach abschreiben und sagen: Pech gehabt, ihr kommt halt zu einem schlechten Zeitpunkt auf den Arbeitsmarkt?"

SPIEGEL: Sind 22 Milliarden Euro für den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Ihrem Beschäftigungspaket nicht ein wenig sparsam im Vergleich zu den 750 Milliarden Euro, mit denen die Kommission die Coronakrise bekämpfen will?

Schmit: Dieser Betrag entspricht dem, was in der letzten Krise eingesetzt wurde. Wichtiger als der Gesamtbetrag ist aber, dass wir jetzt schnell handeln. Die Kommission sollte diesmal - anders als bei der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 - nicht längere Zeit warten, sondern das Problem sofort angehen, um Resultate zu erzielen. Ansonsten droht ein Rückfall zu den Jugendarbeitslosigkeitsquoten früherer Jahre…

SPIEGEL: …die noch 2013 im EU-Schnitt bei 24 Prozent, in manchen Ländern sogar weit über 50 Prozent lagen…

Schmit: …und zu denen uns die Coronakrise zurückbringen könnte. Die Jugendarbeitslosigkeit steigt derzeit enorm schnell. Deshalb müssen wir ebenso schnell reagieren. Das Schlimmste ist, wenn Jugendliche in strukturelle Arbeitslosigkeit geraten. Je länger man ohne Job ist, desto tiefere Narben reißt das ins spätere Berufsleben - das ist durch viele Studien bewiesen.

Zur Person
Foto: POOL New/ REUTERS

Nicolas Schmit, geboren im Dezember 1953, ist seit Ende 2019 EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration unter Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Zuvor führte der luxemburgische Sozialdemokrat das Arbeits- und Sozialministerium seines Heimatlandes.

SPIEGEL: Es sind ja nicht nur die Schulden durch die Coronakrise, die junge Menschen belasten werden. Sie werden es auch mit den Folgen von Klimawandel und Ressourcenverschwendung zu tun bekommen, zudem werden die Sozialkassen kaum auf den demografischen Wandel vorbereitet. Es entsteht der Eindruck, die Alten lebten auf Kosten der Jungen. Trifft er zu?

Schmit: Er ist zumindest nicht völlig falsch. Ältere Arbeitnehmer sind in der Regel besser geschützt als jüngere. Und wer keine Arbeitsstelle hat, hat es durch die Krise noch schwerer, eine zu finden. Auch im Sozialstaat ist angesichts der demografischen Entwicklung klar, dass Anpassungen notwendig sind. Wenn man etwa Altersarmut abbauen will und zugleich immer weniger Erwerbstätige immer mehr Rentnern gegenüberstehen, muss auch die Lebensarbeitszeit verlängert werden - zumindest für die, die es können. Sonst werden die Renten eines Tages nur noch auf prekärem Niveau liegen. Wir müssen deshalb ein neues Gleichgewicht zwischen den Generationen finden.

SPIEGEL: In Sonntagsreden wird gepredigt, den nächsten Generationen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen. Doch spätestens, wenn es ums Geld oder den Lebensstil geht, scheint kaum noch ein Älterer zum Verzicht zugunsten der Jüngeren bereit.

Schmit: Es kommt darauf an, von welchen Älteren man spricht. Für einen Mindestlohnempfänger etwa dürfte es schwierig werden, noch auf irgendetwas zu verzichten, wenn er nicht selbst in Altersarmut stürzen soll. Wir brauchen deshalb eine Gerechtigkeitsdebatte in unserer Gesellschaft.

SPIEGEL: Mit Verlaub, gerade in reicheren Ländern leben Ruheständler meist nicht am Existenzminimum. Im Gegenteil, von ihrem Wohlstand werden viele heutige Jugendliche wohl nur noch träumen können, wenn sie eines Tages in Rente gehen. Können Sie diesen jungen Menschen heute noch guten Gewissens den berühmten Satz des CDU-Sozialpolitikers Norbert Blüm sagen: Die Rente ist sicher?

Schmit: Ich würde nicht sagen, die Rente ist sicher. Ich würde sagen: Wir müssen alles tun, damit eure Rente sicher sein wird. Die Menschen, die heute jung sind, sollen darauf zählen können, dass sie auch im Alter ein würdevolles Leben führen können. Die Voraussetzungen dafür stehen nicht schlecht in Europa: In vielen Ländern gibt es Fachkräftemangel, das eröffnet Chancen. Wir setzen auf den klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft, auch da ergeben sich neue Möglichkeiten. Und schließlich müssen wir hier und da umdenken. Unsere Systeme der sozialen Sicherung hängen sehr stark an der Arbeit. Womöglich wird es hier Änderungen geben müssen.

SPIEGEL: Kritiker sagen, der Grund für die seniorenfreundliche Politik sei, dass Politik von Senioren gemacht wird. Muss man größeren gesellschaftlichen Einfluss junger Menschen notfalls durch neue Regeln fördern, etwa durch eine Absenkung des Wahlalters auf 16 oder jünger?

Schmit: Wichtiger, als das Wahlalter abzusenken wäre, einen neuen Generationenvertrag einzugehen. Ich bin auch nicht der Jüngste, aber ich beschäftige mich dennoch mit den Problemen der Jungen. Die Idee, es geht mir als Älterem gut, was kümmern mich die Jungen - das ist sehr gefährlich. Willy Brandt hat das mal so gesagt: Wir müssen wieder über den Tag hinausschauen. Darum geht es auch jetzt mit unserem Programm gegen die Jugendarbeitslosigkeit.

"Wenn ich mit Politikern aus Osteuropa rede, dann ist deren erste Sorge oft: Die Jugend wandert ab, nämlich dorthin, wo sie besser verdient. Auch deshalb brauchen wir eine gewisse Angleichung der sozialen Bedingungen."

SPIEGEL: An diesem Mittwoch startet die deutsche Ratspräsidentschaft. Haben Sie die Befürchtung, dass in den nächsten Monaten soziale Themen angesichts der Corona-Wirtschaftskrise keine Rolle mehr spielen?

Schmit: Nein, ich sehe das überhaupt nicht so. Die Priorität ist natürlich, jetzt die wirtschaftlichen Probleme schnell zu lösen. Und das Soziale ist ein wichtiger Teil davon. Wir müssen die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen den EU-Staaten in den Griff bekommen. Es geht nicht, dass die einen nur exportieren und die anderen immer weiter zurückfallen. Wenn wir den jungen Menschen in Spanien, in Griechenland, in Portugal keine Perspektive geben können, dann fliegt uns Europa auseinander. 

SPIEGEL: Eine Angleichung soll es bei den Mindestlöhnen geben, so der Plan der deutschen Ratspräsidentschaft. Warum sind hier in Europa überhaupt noch Lücken?

Schmit: Ich kann Sie beruhigen, ich will keinen einheitlichen europäischen Mindestlohn. Aber wir brauchen größere Lohnkonvergenz. Der höchste Mindestlohn in der EU, der in Luxemburg, ist sechsmal höher als der niedrigste. Eine Anpassung ist dringend nötig, denn die Lebenshaltungskosten unterscheiden sich längst nicht so stark, die Produktivität auch nicht. Wenn ich mit Politikern aus Osteuropa rede, dann ist deren erste Sorge oft: Die Jugend wandert ab, nämlich dorthin, wo sie besser verdient. Auch deshalb brauchen wir eine gewisse Angleichung der sozialen Bedingungen.

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SPIEGEL: Die Coronakrise hat gezeigt, dass es mit der Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf noch immer nicht weit her ist, wenn es ernst wird. Wie wollen Sie hier die Chancengleichheit stärken?

Schmit: Wenn ich das mal so sagen darf: Frauen waren in der Krise überall da, wo Not am Mann war. 60 Prozent der Angestellten im Gesundheitswesen sind Frauen. Im Gesundheitssystem, in der Pflege, aber auch die Kassiererin im Supermarkt, sie alle haben eine große Rolle gespielt. Die entscheidende Frage ist doch eine ganz andere: Warum zahlen wir für diesen Einsatz nicht genügend Lohn? Da müssen wir ran, zum Beispiel mit guter Tarifpolitik. Es geht um Wertschätzung guter Arbeit.

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