Der Preis des Wahlerfolgs Die Grenzen der Grünen

Grünen-Chef Robert Habeck: "Wir sind ins Zentrum der politischen Debatte eingerückt"
Foto: OMER MESSINGER/EPA-EFE/REXSo richtig fassen können die Grünen es am Morgen danach noch nicht. Platz zwei bei der Europawahl, weit vor der SPD, ein historisches Ergebnis. Parteichef Robert Habeck und der europäische Spitzenkandidat Sven Giegold sitzen in der Berliner Bundespressekonferenz, der Saal ist voll.
"Wir sind ins Zentrum der politischen Debatte eingerückt", sagt Habeck nicht ohne Stolz. Aber er sagt auch: Für seine Partei, die strukturell, finanziell und operationell im Vergleich zu anderen Parteien durchaus schwächer ausgestattet sei, sei das eine immense Aufgabe.
Tatsächlich liegt hier für die Grünen die Krux, bei aller Freude über den Wählerzuspruch. Sie waren bislang keine 20-Prozent-Partei, zumindest nicht bundesweit. Geht der Aufschwung weiter, setzen sich die Grünen in diesen Sphären fest, geht die Partei mit einem Kanzlerkandidaten in die nächsten Bundestagswahlen - dann muss sich etwas ändern.
Ein Beispiel: das Geld
Die Grünen haben nach eigenen Angaben etwas mehr als drei Millionen Euro für den Europawahlkampf ausgegeben. Bei der SPD waren es etwa elf Millionen Euro, bei der CDU (ohne die Mittel der CSU) etwa zehn Millionen Euro. Die Grünen haben für diesen Wahlsieg dementsprechend hart gekämpft. Aber um dauerhaft erfolgreich zu sein, brauchen sie mehr Geld.
Der Etat der vorigen Bundestagswahl würde für die nächsten jedenfalls nicht ausreichen, sagt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. Vor allem der Medienetat müsse wachsen. Mitglieder müssten geschult und weitergebildet werden. "Wir haben diesen Europawahlkampf sehr erfolgreich digital geführt", sagt Kellner. Aber auch hier müsse die Partei noch mehr investieren.
Noch ein Beispiel: die Mitglieder
Die Grünen haben etwa 80.000 Mitglieder, SPD und CDU haben weit mehr als 400.000. Plakate kleben, Veranstaltungen organisieren - dafür braucht es Ehrenamtliche vor Ort, und zwar mehr als eine Handvoll Engagierter. Die Grünen müssen also wachsen, und das möglichst schnell. Dafür wiederum muss es die entsprechenden Strukturen geben - was nützen Dutzende neue Mitglieder, wenn sich vor Ort keiner um sie kümmern kann? Und nicht zuletzt müssen die Grünen all die vielen Posten besetzen, die sie durch ihre Rekord-Wahlergebnisse ergattert haben.
Habeck formuliert das so: "Rein numerisch heißt das, dass alle Grünen, die nicht bei drei sagen, wir machen nicht mit, irgendein Mandat oder Amt übernehmen müssen." Dass die Partei offen und durchlässig sei, sei ein Grund, warum sie so attraktiv sei. Habeck sieht die größte Herausforderung darin, diese Attraktivität zu halten. "Das Lebendige, was da drin ist, nicht fallenzulassen, nicht aufzugeben und gleichzeitig zu übersetzen, in eine Organisationsform, die funktioniert", sagt er.
Bislang klappt die Strategie der Grünen, sich inhaltlich breiter aufzustellen und sich dabei nicht an ein Milieu zu binden. In drei Bundesländern sind sie stärkste Kraft geworden: In Berlin, Hamburg - und Schleswig-Holstein. In Bremen, Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen landeten sie auf Platz zwei.
Das zeigt: Die Grünen können auch in der Fläche Wahlen gewinnen. Und in den großen Bundesländern punktet die Partei nicht nur in den Städten, sondern auch in ländlichen Regionen, etwa in Schleswig-Holstein (Lesen Sie hier eine ausführliche Analyse zu den Hochburgen der Parteien). Zudem geht die Gleichung Grünen-Wähler gleich Besserverdiener nicht immer auf. Die Partei ist in Dortmund und Wuppertal stärkste Kraft geworden - dort liegt das Einkommen leicht unter dem Bundesdurchschnitt. Aber auch in München und Stuttgart, wo die Einwohner tendenziell besser verdienen, kamen die Grünen gut an.
Die Grünen-Schwachstelle: der Osten
Obwohl sie im Osten Zugewinne verzeichnen können, liegt hier noch immer die größte Schwäche der Grünen. Das hat viele Gründe. Die Umweltverschmutzung, vor der Wende so eklatant sichtbar, ist vielerorts in den Neunzigerjahren zumindest aus dem öffentlichen Blick verschwunden. Die Grünen galten und gelten zudem als Westpartei - gebildet, aber überheblich. Für sie war es schwer, im Osten überhaupt Fuß zu fassen und präsent zu sein.
Zudem flacht der Wegzug aus dem Osten nur langsam ab. Die Bevölkerung ist tendenziell älter. Bei Wählern über 60 Jahren schneiden die Grünen aber schwächer ab als in anderen Altersgruppen. Zudem ist die AfD besonders stark. Die Grünen haben es im Osten bislang nicht geschafft, sich als effektive Gegner der Rechtspopulisten zu etablieren. Hier stoßen die Grünen an ihre Grenzen.
Dennoch haben sie es geschafft, in Sachsen und Brandenburg zweistellige Ergebnisse zu erzielen. "Das ist für sich genommen schon ein Ausrufezeichen", sagt Habeck. In Thüringen lagen sie knapp unter zehn Prozent. Daraus sei aber längst keine Trendwende abzuleiten.
Nur ein Ausrutscher nach oben?
Die Grünen haben vor dem Ergebnis und vor den anstehenden Wahlen viel Respekt. Sie wissen: Bei den Landtagswahlen im Herbst müssen sie die Ergebnisse in Sachsen, Brandenburg und Thüringen halten. Sonst könnte die Europawahl schnell als einmaliger Ausrutscher nach oben abgetan werden.
Das wird schon deshalb nicht leicht, weil nationale Wahlen und Europawahlen nur bedingt miteinander vergleichbar sind. Die Grünen gelten als ausgewiesen proeuropäisch. Das hat ihnen jetzt geholfen, in Bund und Ländern wird es kaum ausschlaggebend sein.
Zudem müssen sie künftig mit vermehrten Angriffen der Konkurrenz rechnen. Die Union hat die Grünen bereits öffentlich zum Gegner ausgelobt. "Die große Kernaufgabe ist die intensive Auseinandersetzung mit den Grünen", sagte CSU-Chef Markus Söder nach den ersten Hochrechnungen am Wahlabend. Bei den Grünen nimmt man das durchaus ernst, auch wenn Habeck öffentlich dazu sagt: "Bring it on."
Und irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, werden die Grünen sich entscheiden müssen, ob sie zur nächsten Bundestagswahl einen Kanzlerkandidaten aufstellen. Noch wollen sie davon nichts wissen. Aber bald müssen sie die Frage beantworten, ob sie, statt nur ins Zentrum der politischen Debatte, nicht auch den Anspruch haben, ins Zentrum der Macht vorzurücken.