Ex-DDR-Politiker Schnur Verschollen daheim

Früherer DDR-Politiker Schnur (im Jahr 1996): "Ich weiß gar nicht, was das soll"
Foto: Andreas Altwein/ dpaBerlin - Ein verrücktes Leben, das da hingelegt hat. Als Waisenkind aufgewachsen, Jurastudium, Informeller Mitarbeiter der Stasi, beinahe letzter Ministerpräsident der DDR, Angela Merkel als Sprecherin engagiert, im Nachwende-Deutschland tief gestürzt - und jetzt auf der Suche nach Goldstaub in Afrika verschollen.
Letzteres geht am Mittwoch durch die Medien. "Wendepolitiker Wolfgang Schnur verschwunden", tickert die Nachrichtenagentur dpa.
Doch Schnur ist wieder aufgetaucht. Oder besser: Er war überhaupt nicht weg. Sagt er selbst. "Ich weiß gar nicht, was das soll", so der 66-Jährige zum "Berliner Kurier".
Was war geschehen? Die Geschichte klingt so skurril wie das übrige Leben des Wolfgang Schnur. Sie beginnt bei Peter-Michael Diestel, Rechtsanwalt, CDU-Politiker, letzter DDR-Innenminister. Ein Freund Schnurs. Einer von nur noch sehr wenigen. Diestel hielt Kontakt zu Schnur, bis vor etwa einem Jahr, wie sich der Anwalt erinnert. Dem "Kurier" sagte er: "Wolfgang Schnur wechselte häufig die Mäntel, hatte also ständig neue Jobs und eine neue Umgebung."
Wo ist Schnur?
Vor wenigen Tagen dann wollte Diestel offenbar Klarheit, wandte sich ans Auswärtige Amt, bat um Hilfe. Wo ist Schnur? "Ich habe auf Bitten des Freundeskreises und von Geschäftsleuten einen Nachforschungsantrag beim Auswärtigen Amt gestellt", so Diestel. Das Amt bestätigte am Mittwoch, dass es mit dem Fall befasst ist. Allerdings: Wäre Schnur im Ausland etwas zugestoßen, hätten dies die Diplomaten möglicherweise schon gewusst. Denn üblicherweise wird dann der deutsche Botschafter des jeweiligen Landes von den dortigen Behörden informiert. Doch Diestel sagte: "Da muss wohl etwas Schlimmes passiert sein."
Die Schnur-Spur, so wurde von manchem vermutet, führt nach Afrika, nach Ghana. Von Geschäften mit Goldstaub war die Rede.
Doch am Donnerstag stellt sich heraus: An der Sache ist nichts dran. Schnur lebt seit einigen Jahren mit seiner 35-jährigen Frau und der Familie in einem großen Haus im Dorf Groß Köris, im südlichen Berliner Umland. Schnur zeigt sich überrascht über die Fahndung seines Freundes. Noch am Mittwoch soll er sich in Diestels Büro gemeldet, jedoch nicht persönlich mit dem Anwalt gesprochen haben.
Tatsächlich aber hat Schnur gerade Ärger in Geldsachen - wenn es sich dabei auch nicht um afrikanische Goldgeschäfte handelt. Von der Staatsanwaltschaft in Nordrhein-Westfalen wird er wegen eines nicht bezahlten Knöllchens gesucht. Weil er trotz mehrmaliger Aufforderung den Strafzettel in Höhe von 30 Euro nicht bezahlt hat, droht Schnur Erzwingungshaft, so eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft Dortmund.
"Ihm können Sie vertrauen", sagte Helmut Kohl
Allerdings auch kein Grund zum Untertauchen. Denn Schnur könnte die Sache rasch regeln, wenn er einfach das Knöllchen und die Folgekosten bezahlt. "Dass einer untertaucht wegen 30 Euro, das habe ich noch nicht erlebt. Das muss andere Gründe haben", sagt die Sprecherin.
Warum aber hat ihn Diestel überhaupt suchen lassen? Der Ex-Minister war für SPIEGEL ONLINE am Donnerstag nicht erreichbar.
Klar ist: Die Episode fügt Schnurs Leben eine weitere skurrile Episode hinzu. Vor zwanzig Jahren gilt er als einer der heißesten Anwärter auf den Posten des DDR-Ministerpräsidenten - und zwar des ersten frei gewählten. Gemeinsam mit führt der damalige Dissidenten- und Kirchen-Anwalt Schnur den "Demokratischen Aufbruch" (DA), für die Volkskammer-Wahl am 18. März 1990 rechnen Beobachter mit bis zu zwanzig Prozent für die neue Partei. "Ihm können Sie vertrauen", sagt der damalige Kanzler Helmut Kohl. Im Herbst hat Schnur eine junge Physikerin zur Pressesprecherin des DA gemacht: .
"IM Torsten" bei der Stasi
Doch dann geschieht das Undenkbare für die hoffnungsfrohe DA-Mannschaft: Wenige Tage vor der Wahl enttarnt der SPIEGEL Wolfgang Schnur als der DDR-Staatssicherheit, der Vorsitzende erleidet einen Kreislaufkollaps. 25 Jahre lang diente Schnur der Stasi unter dem Decknamen "IM Torsten" als Spitzel. Über Schnurs "Haupteinsatzrichtung" bemerkte sein Führungsoffizier, dass diese "in der aktiven Bearbeitung negativ-feindlicher Kräfte, unter besonderer Beachtung von Pastor Eppelmann" bestehe.
Eppelmann dachte, er wäre ein Freund von Wolfgang Schnur.
Dessen Spezialauftrag seit den achtziger Jahren: "Eine Konfrontation Staat - Kirche vorbeugend zu verhindern." So hat Schnur noch im Sommer 1989 versucht, oppositionelle Pfarrer davon abzuhalten, den "Demokratischen Aufbruch" zu gründen. Weil das nicht gelingt, lässt er sich selbst an die DA-Spitze wählen und versucht, das Parteivolk davon abzuhalten, die "führende Rolle" der SED zu attackieren.
Irgendwann im Herbst 1989 brechen Schnurs Kontakte zum Geheimdienst ab. Er will jetzt Karriere machen. Seine Biografie vergessen. Auf Versammlungen der Opposition kommt er an: "40 Jahre ist unser Land ruiniert worden. Wir wollen nicht mehr Ruinen, wir wollen ein neues Aufbauwerk", ruft er den Leuten zu. Schnur ist in einer anderen Rolle, die Macht in der neuen DDR lockt: "Geilheit, Verblendung", sagt er später, "ich war so dicht vor dem Ziel und nicht zu stoppen."
Dann ist plötzlich alles aus.
Der DA ruft zur Pressekonferenz, eine verunsichert wirkende Angela Merkel muss über Schnurs Stasi-Verwicklungen berichten. Die Partei selbst schmiert kurz darauf bei der Wahl ab: Nur 0,92 Prozent der Stimmen erhält der DA am 18. März. Schnur selbst flüchtet sich in seltsame Unternehmen, bald hat er 1,5 Millionen Mark Schulden, wird verurteilt wegen Konkursverschleppung, Mandantenverrat und Beleidigung eines Richters. Er verliert seine Zulassung als Anwalt.
Er arbeitet als juristischer Berater ehemaliger Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LPGs) und anderer Unternehmen. In einem Prozess um gefälschte Wertpapiere wird er schließlich als Zeuge geladen, obwohl es auch gegen ihn einen Verdacht gegeben hatte.
Seitdem war es still geworden - bis sich der alte Freund ans Auswärtige Amt wandte.