Münchhausen-Check Was Sahra Wagenknecht bei Ludwig Erhard entdeckt

Linken-Politikerin Wagenknecht: "Ludwig Erhard wäre bei uns ... am besten aufgehoben"
Foto: Martin Schutt/ dpaIn ihrer Schrift "Freiheit statt Kapitalismus" versucht die stellvertretende Vorsitzende der Linken die Ideenwelt des frühen deutschen Neoliberalismus, des sogenannten Ordoliberalismus, für ihr Konzept eines "kreativen Sozialismus" einzuspannen. Leute wie Eucken, Erhard, Röpke, Rüstow und auch Müller-Armack hätten "vor genau jener Fehlentwicklung gewarnt, deren Konsequenzen wir heute erleben".
Ist diese versuchte Annäherung ein taktischer Schachzug, um beim bürgerlichen Publikum im Westen Deutschlands zu punkten oder steckt eine Wahrheit dahinter, die sich zu entdecken lohnt?
Wagenknecht knüpft in ihrer Argumentation an Erhards Maxime vom "Wohlstand für Alle" an. Zu Ende gedacht, so sagt sie, müsse eine Politik, die dieses Ziel verfolgt, den heutigen Kapitalismus in Frage stellen und eine neue Wirtschaftsordnung anstreben .
Ein System, in dem Menschen Vollzeit arbeiten gehen, aber nicht genug verdienen, um davon leben und eine ausreichende Rente ansparen zu können, während die Reichen immer schneller immer reicher werden, sei keine Soziale Marktwirtschaft. "Ludwig Erhard würde sich im Grabe umdrehen", glaubt auch Gewerkschaftsführer Michael Sommer .
Die Linkspartei schlägt zur Abhilfe einen gesetzlichen Mindestlohn von zehn Euro die Stunde und eine Mindestrente von 1000 Euro monatlich vor. Außerdem fordert sie die Einführung einer Reichensteuer mit einem Spitzensatz von 75 Prozent für alle Jahreseinkommen über eine Million Euro.
Während beim Reizwort Reichensteuer die Besserverdienenden in den Chefetagen und ihre Lakaien in den Redaktionsstuben entsetzt mit den Augen rollen, weist Frau Wagenknecht gern darauf hin, dass auch in der Adenauer-Ära die Spitzensteuer bei weit über 50 Prozent gelegen habe .
Das ist richtig.
Der heutige Satz von 42 beziehungsweise 45 Prozent markiert einen vergleichsweise sehr niedrigen Stand in der bundesdeutschen Geschichte. Aber es waren nicht Adenauer und Erhard, sondern die Alliierten, die 1946 dem besiegten Deutschland eine weltweit einmalig hohe Spitzensteuer von 95 Prozent aufbürdeten - auch, um die hohen Besatzungskosten zu finanzieren.
In einem zähen Ringen drückte die Bundesregierung den Satz bis 1958 auf nur noch 53 Prozent herab. Der damalige Wirtschaftsminister Erhard unterstrich in seinem Buch "Wohlstand für Alle" (1957) das "sehr berechtigte Anliegen aller Staatsbürger", zu einer "Senkung der steuerlichen Belastung zu gelangen".
Statt dem "modernen Wahn" vom "Versorgungsstaat" nachzugeben, so der Rat Erhards, sollte der Staat seine Ausgaben einfrieren und die bei einer wachsenden Wirtschaft sich aufbauenden öffentlichen Kassenüberschüsse für Steuersenkungen nutzen. Erhard: "Man bedenke doch nur, wie wesentlich geringer die steuerliche Belastung in zehn Jahren sein kann."
Klingt nach einem Rezept aus dem Arsenal von CDU und FDP und nicht nach Linkspartei - oder?
Sahra Wagenknecht sagt weiter, ordoliberales Denken sei das Gegenteil des stumpfsinnigen Glaubens an deregulierte Märkte gewesen: Die Vertreter dieser Richtung waren im Gegensatz zu den heutigen Neoliberalen überzeugt, "dass der Markt nicht alles richten kann, der Staat muss die Regeln und den Ordnungsrahmen setzen" .
Auch das ist richtig.
Doch auch hier stehen vor der "Vereinnahmung von links" hohe Hürden. Denn der Freiburger Professor Walter Eucken, der in den dreißiger Jahren den Ordoliberalismus begründete - zunächst in radikaler Kritik an der Wirtschaftsordnung in der Weimarer Zeit, dann als Gegenmodell zum Lenkungs- und Planungssystem der NS-Wirtschaft - stand politisch nicht links, sondern rechts.
Seine Schrift "Staatliche Strukturwandlungen und die Krise des Kapitalismus" (1932) attackierte den Weimarer Parlamentarismus. Nach Euckens damaliger Ansicht war es die Demokratisierung, die "den Parteien und den von ihnen organisierten Massen und Interessengruppen" einen zu starken Einfluss auf den Staat und die Wirtschaftspolitik verschafft hatte.
In der Folge sei die regulierende Wirkung des Preissystems durch Staatseingriffe außer Kraft gesetzt worden. Der Staat, so lautete seine Medizin, müsse die Kraft finden, sich von der Macht der großen Konzerne einerseits, aber - Frau Wagenknecht aufgepasst - auch "vom Einfluss der Massen freizumachen". Damit waren insbesondere die Gewerkschaften gemeint.
In die Polemik gegen den "Nachtwächterstaat", die Wagenknecht so "überzeugend" findet, mischten sich antidemokratische Untertöne. Auch als Euckens Mitstreiter Alexander Rüstow am Vorabend der NS-Machtergreifung das erste Manifest des späteren Ordoliberalismus vortrug: Der "neue Liberalismus", so Rüstow im Verein für Sozialpolitik, habe mit dem "Nachtwächterstaat" abgeschlossen und setze auf einen starken Staat, überlegen durch "Autorität und Führertum" . Rüstow war damals auf einer Schattenkabinettsliste General Kurt von Schleichers als Wirtschaftsminister im Gespräch.
Sagen wollen wir aber auch: Bis auf Müller-Armack war keiner der hier genannten deutschen Liberalen Mitglied der NSDAP. Rüstow und Röpke emigrierten noch 1933 in die Türkei.
Die Lehre von Mehrwert und Ausbeutung
Die größte Differenz zwischen sozialistischer und neoliberaler Ökonomie besteht in der Wert- und Verteilungslehre. Im Marxschen System ist die Arbeit der wertschaffende Faktor. Der objektive Wert eines Gutes bemisst sich danach, wie viel Arbeit in ihm steckt, die Waren tauschen sich im Gleichgewicht im Verhältnis ihrer Arbeitswerte. Kapital kommt dabei nur als vorgetane, als geronnene Arbeit in Betracht.
Im Kapitalismus, so Marx, wird die menschliche Arbeit lediglich mit dem Geldwert der Gütermenge entlohnt, die notwendig ist, um die Arbeitskraft zu erhalten. Denn eine wachsende Bevölkerung und die Freisetzung ehemals Beschäftigter durch den technischen Fortschritt schaffen ein Heer verzweifelt Arbeitsuchender und drücken, ganz den Gesetzen von Angebot und Nachfrage folgend, den Lohn stets auf das Existenzminimum hinab.
Die Produkte aber erzielen auf dem Markt einen höheren Preis, als der Unternehmer für die Entlohnung der zu ihrer Produktion notwendigen Arbeit aufwenden muss. Diese Differenz, den "Mehrwert", steckt der Kapitalist als Profit ein. Und während sich das Kapital anhäuft, verelenden die Massen immer mehr, bis es zum Knall, zur Revolution, kommt. Jedenfalls in der sozialistischen Theorie.
Der Vorschlag eines gesetzlichen Mindestlohns über dem Existenzminimum liegt auf der Hand.
Im ordoliberalen Marktmodell dagegen entspricht der Lohn im Gleichgewicht der Grenzproduktivität der Arbeit, das heißt, er ist gleich dem Geldwert der durch die Arbeit geschaffenen Werte - vorausgesetzt:
- es herrscht freie Preisbildung auf Güter- und Arbeitsmarkt
- der Staat garantiert Konkurrenz
- schafft Spielregeln und einen verbindlichen Ordnungsrahmen
- verhindert Oligopole oder Monopole, verhindert wirtschaftliche Machtzusammenballungen.
Steigt die Produktivität, steigt auch der Lohn und andersherum.
Im Modell vollkommener Konkurrenz gibt es keinen vom Kapitalisten eingesackten Mehrwert, keine ungerechtfertigten Profite, keine verelendenden Massen. Es herrscht Vollbeschäftigung und alle erfreuen sich unter den jeweils gegebenen äußeren Rahmenbedingungen des maximal erzielbaren wirtschaftlichen Nutzens.
Sahra Wagenknecht. "Sehr schön ist die klare Aussage von Erhard, dass wir nur dort von sozialer Marktwirtschaft reden können, wo die Löhne im Gleichklang mit der Produktivität steigen." Und: "Wäre das geschehen, müsste das deutsche Lohnniveau heute um mindestens zwölf Prozent höher sein" .
Doch Frau Wagenknechts lohnpolitische Quintessenz enthält einen Denkfehler.
Denn das Bestehen von Arbeitslosigkeit ist auch im ordoliberalen Denken ein starkes Indiz dafür, dass die Löhne - etwa aufgrund gewerkschaftlicher Macht - zu hoch sind, eben keine freie Preisbildung auf dem Arbeitsmarkt besteht.
Wenn es nun aber im Jahre 2005 knapp fünf Millionen Arbeitslose gab, dann lag das Lohnniveau nach ordoliberaler Logik über dem Gleichgewichtslohn bei Vollbeschäftigung. Folglich bedeuteten Produktivitätsfortschritte in einer solchen Situation erst einmal Luft für Mehreinstellungen. Während Lohnerhöhungen nur ein Beharren oder ein weiteres Ansteigen der hohen Arbeitslosigkeit bewirkt hätten.
Kaum vorstellbar, dass Frau Wagenknecht sich dieser Deutung anschließen möchte.
Wagenknecht vereinnahmt Erhard - zu unrecht
Soziale Marktwirtschaft im Sinne Erhards und Euckens hat eben nicht viel mit dem Sozialstaat zu tun, wie ihn die Linke fordert. Deutlich erkennt dies Genosse Professor Herbert Schui , der lange Ökonomie an der HWP in Hamburg lehrte.
Ein Mindestlohn, so Schui sei zwar in der Welt von Eucken und den anderen nicht unmöglich, aber er dürfe nicht höher sein als der Gleichgewichtslohn bei Vollbeschäftigung, wenn er nicht zu Arbeitslosigkeit führen soll.
Und da hat Professor Schui Recht.
"Die Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden", mag sich Sahra Wagenknecht mit der großen Sozialistin Rosa Luxemburg denken, ein Wort, mit dem übrigens in den siebziger Jahren auch einmal die FDP auf Stimmenfang ging, denn die Jugend war damals politisch links und Ludwig Erhard stand nicht eben hoch im Kurs.
Fazit: Ludwig Erhard links denken, diese Rechnung ist ohne Erhard und ohne die Genossen gemacht. Sahra Wagenknecht vereinnahmt den Vater des westdeutschen Wirtschaftswunders mit demselben Recht, wie einst die FDP Rosa Luxemburg, nämlich mit gar keinem.
Note: Nicht ausreichend (5)