Fakten-Check zum TV-Duell Wer bei welchen Aussagen geschummelt hat

Fakten-Check zum TV-Duell: Wer bei welchen Aussagen geschummelt hat
Foto: AP/dpaVon Mita Arp, Almut Cieschinger, Klaus Falkenberg, Bertolt Hunger, Hauke Janssen, Mara Küpper, Rainer Lübbert, Regina Schlüter-Ahrens, Stefan Storz, Ursula Wamser, Holger Wilkop und Karl-Henning Windelbandt
Berlin-Adlershof, Studio G, 20:29 Uhr. Die Moderatoren Anne Will (ARD), Maybrit Illner (ZDF), Peter Kloeppel (RTL) und Stefan Raab (ProSieben) prüfen ihr Outfit und gehen ein letztes Mal die verabredeten Themen durch: "Aktuelles", "Arbeit und Soziales", "Finanzen" und "Sicherheit".
Auf der anderen Seite des Bildschirms warten rund 15 Millionen Wahlberechtigte gespannt auf den "Showdown der Kandidaten". Dann geht's los:
Die erste Frage geht an den Herausforderer Peer Steinbrück (66), SPD: "Herr Steinbrück, Sie sagen, das Land sei schlecht regiert wie nie. Warum sind dann Ihre Umfragewerte nicht besser?" Steinbrück kündigt in seiner Antwort zwar an, er wolle "präzise antworten" - er tut es aber nicht. Er kann lediglich auf seine Überzeugung verweisen, am Ende die Wahl doch noch zu gewinnen. Punkt an Merkel
Merkel sagt in der weiteren Debatte, die Koalition habe den Haushalt konsolidiert. Das ist falsch: 2012 schlägt mit einer Nettokreditaufnahme des Bundes von 22,5 Milliarden Euro zu Buche, 2013 inklusive des Flut-Nachtrages sogar mit einem Minus von 25,1 Milliarden Euro. Punkt an Steinbrück

TV-Duell: Merkel gegen Steinbrück
Merkel behauptet, dass in den vergangenen vier Jahren 1,9 Millionen "neue" sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen wurden. Das ist richtig. Ganz neu sind die Arbeitsplätze aber nicht, viele Menschen waren nur krisenbedingt und vorübergehend arbeitslos. Halber Punkt an Merkel
Steinbrück hält Merkel vor, dass die Staatsverschuldung in den letzten vier Jahren um 20 Prozent zugenommen habe. Das ist richtig: Der öffentliche Gesamtschuldenberg (nach Maastricht) stieg unter Schwarz-Gelb (Ende 2009 bis Ende 2012) von 1768,9 Milliarden Euro auf 2166,3 Milliarden Euro, das ist eine Zunahme von 397,4 Milliarden oder 22,5 Prozent. Punkt für Steinbrück
Steinbrück beklagt die Vielzahl prekärer Arbeitsverhältnisse. Merkel hält dem entgegen, dass es seit Jahren immer weniger erwerbstätige Leistungsbezieher in der Grundsicherung (Aufstocker) gibt. Halber Punkt für Merkel
Steinbrück erweckt den Eindruck, als fordere er eine europäische Haftungsunion. Richtig ist, dass er früh klarstellte, dass wir mit den Institutionen des Europäischen Rettungsschirms faktisch eine Haftungsunion haben, auch wenn die Regierung dies nicht wahrhaben will. Damit hat er unserer Meinung nach zwar nicht formal recht - aber praktisch. Also: Punkt für Steinbrück
Steinbrück erklärt: Merkels Europapolitik sei gescheitert. Nun mag man der Europapolitik der Bundesregierung zwar kritisch gegenüberstehen. Aber noch ist sie nicht am Ende, und noch hält der Euro stand. Punkt für Merkel
Steinbrück sagt, Merkels Krisenpolitik habe dazu geführt, dass die Krisenländer sich wirtschaftlich nicht erholten. Die Jugendarbeitslosigkeit in Südosteuropa sei stark angestiegen. Stimmt. Aber den Nachweis, dass dies Ergebnis der Politik Merkels sei, bleibt er schuldig. Kein Punkt
Steinbrück sagt, eine Folge der Sparpolitik seien die niedrigen Zinsen, unter denen viele deutsche Sparer litten. Stimmt, aber Niedrigzinsen sind ein globales Phänomen. Es gibt sie außerhalb Europas, etwa in Japan und den USA, wo eine andere Wirtschaftspolitik betrieben wird. Deshalb für jeden einen halben Punkt.
Steinbrück hält Merkel vor, dass Unionspartner Horst Seehofer eine Pkw-Maut für Ausländer fordere und dies zur Bedingung des Koalitionsvertrags mache. Eine solche, Ausländer diskriminierende Maut sei nach europäischem Recht aber nicht erlaubt. Richtig. Merkel meint zwar, mit ihr werde es eine solche Maut nicht geben, aber das muss sie Seehofer sagen, nicht Steinbrück. Punkt für Steinbrück
Steinbrück sieht in der verstärkten Verfolgung von Steuerbetrügern eine große potentielle Einnahmequelle. Er rügt deshalb die schwarz-gelben Vorbehalte gegen den Ankauf von Steuer-CDs, die Informationen über deutsche Steuerflüchtlinge enthalten. Stimmt: Die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) wollte den Ankauf solcher CDs sogar unter Strafe stellen. Merkel nennt das Ausmaß der Steuerflucht ebenfalls "katastrophal". Sie sieht aber "Riesenfortschritte" bei den deutschen Bemühungen um internationale Abkommen, die einer fortgesetzten Steuerflucht entgegenwirken sollen. Punkt für Steinbrück
Die Moderatoren halten Steinbrück vor, er habe sich mittlerweile von der Agenda 2010 abgesetzt, während sie ihm damals nicht weit genug gegangen sei. Steinbrück gibt Letzteres nicht zu. Das ist falsch, wie ein Steinbrück- Interview im SPIEGEL 18/2004 eindeutig belegt. Punkt für Merkel
Merkel wirbt für Ursula von der Leyens Lebensleistungsrente. Steinbrück meint, die CDU habe kein verabschiedetes Rentenkonzept, die Lebensleistungsrente sei keine Beschlusslage. Tatsache ist aber, dass die Lebensleistungsrente Bestandteil des Regierungsprogramms der Union ist. Halber Punkt für Merkel
Steinbrück fordert die Einführung eines flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohns, wie es ihn in rund 20 EU-Staaten gebe. Richtig. Die CDU aber, so der Herausforderer, trete nicht für einen flächendeckenden Mindestlohn ein, ihr Modell sei eine Art Flickenteppich. Richtig. Merkel will die Einigung den Tarifparteien überlassen, weil sie diese in Lohnfragen für kompetenter hält. Ob der von Steinbrück geforderte Mindestlohn aber ökonomisch sinnvoll ist, bleibt unter Experten umstritten. Deshalb: kein Punkt
Gegen 21:18 Uhr kommt Steinbrück mit der einzig wirklichen Neuigkeit des Abends: Er will die Entwicklung der Höhe der Pensionen im öffentlichen Dienst künftig "fair" an die entsprechende Dynamik bei den Renten koppeln. Merkel versucht zu kontern: Da sollten alle Polizisten und Lehrer genau hinhören, alle Beamten im Öffentlichen Dienst, die nur ein kleines Gehalt beziehen. Hier unterläuft ihr ein Fehler: Lehrer gehören nicht zu den Niedrigverdienern. Merkel weiter: Zu beachten sei auch, dass Pensionen, anders als Renten, versteuert werden müssten. Auch das ist falsch: Renten werden ebenfalls grundsätzlich versteuert. Ein langfristiges Übergangsverfahren bewirkt allerdings, dass in der Praxis Rentner oft keine oder kaum Steuern zahlen. Halber Punkt für Steinbrück - aber ob Wähler aus dem Öffentlichen Dienst es ihm danken?
Während Merkel die Energiewende verteidigt und eine Gesetzesnovelle zur Korrektur einiger Fehlentwicklungen ankündigt, hält Steinbrück das schwarz-gelbe Management der Energiewende für ein Desaster. Dieser Meinung ist auch der SPIEGEL, wie der aktuelle Titel belegt. Steinbrück mahnt an, dass es zu viele Ausnahmetatbestände von der EEG-Umlage gäbe und dies den Strompreis in die Höhe treibe. Das stimmt. Es ist aber nur ein Grund unter vielen. Die Energiewende zu kritisieren ist eines, überzeugende Gegenkonzepte vorzulegen, etwas anderes. Letzteres versäumt Steinbrück an diesem Abend. Kein Punkt
Steinbrück und Merkel sorgen sich um die Zukunft der gesetzlichen Krankenversicherung, müssen auf Nachfrage aber eingestehen, dass sie beide privat krankenversichert sind. Dafür gibt es für beide keinen Punkt
Steinbrück behauptet, dass es seit 2008 keine Pflegereform gegeben habe. Merkel hält dagegen: Seit Juni 2012 gibt es das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG). Kritiker halten das PNG allerdings für keine ausreichende Reform. Halber Punkt für Merkel
Steinbrück beklagt, es fehlten 120.000 Pflegekräfte. Stimmt. Experten gehen sogar von bis zu 200.000 in den nächsten zehn bis 15 Jahren aus. Halber Punkt für Steinbrück
Steinbrück wird zu seiner Ablehnung des Betreuungsgeldes gefragt. Ob er Probleme mit der Wahlfreiheit für die Eltern habe? Der Kandidat kontert schlagfertig, dass es ohne Kita-Ausbau keine Wahlfreiheit gäbe. Richtig. In Richtung Merkel wird gefragt, ob sie sich in Sachen Betreuungsgeld von CSU-Chef Seehofer habe über den Tisch ziehen lassen. Die Kanzlerin weicht aus und behauptet, die Koalition habe 800.000 neue Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren geschaffen. Das ist falsch: Es handelt sich dabei um alle Alt- und Neuplätze plus Planung bis 2014. Punkt für Steinbrück
Steinbrück fordert in Sachen NSA-Spähaffäre, die deutsche Regierung solle für Abhilfe und Aufklärung sorgen. Die frühere Behauptung, Merkel habe ihren Amtseid verletzt, wiederholt er nicht, zieht sie aber auch nicht zurück. Merkel sagt, dass nach ihrer Kenntnis auf deutschem Boden kein deutsches Recht verletzt worden sei. Wenn sie zugleich sagt, dass in anderen Ländern anderes Recht gelte, räumt sie aber implizit ein, dass dort nicht in Übereinstimmung mit deutschem Recht gehandelt werde. Halber Punkt für Steinbrück
Steinbrück wird gefragt, ob er als Kanzler dem Whistleblower Edward Snowden Asyl angeboten hätte, und antwortet mit "Nein" - denn dieser habe gar kein Asyl in Deutschland beantragt. Das ist formal richtig. Denn Snowden hat einen Asylantrag bei der deutschen Botschaft in Moskau gestellt. Doch ist er nie nach Deutschland eingereist, wo allein er einen solchen Antrag rechtens stellen könnte. Halber Punkt für Merkel
Um 21.48 Uhr kommen die Moderatoren zum Thema "Syrien". Sie stellen die Frage an Steinbrück: Wenn der Kongress in Washington sich für einen Militärschlag ausspricht, sollte Deutschland sich daran beteiligen? Steinbrück antwortet mit einem klaren "Nein". Er würde es bedauern, wenn die USA sich ohne Mandat der Uno für einen Angriff entscheiden sollten. Merkel antwortet ähnlich entschieden: Deutschland wird sich in "keinem Fall" beteiligen. Das ist eine in die Zukunft gerichtete Aussage, dafür gibt es folglich keinen Punkt
Kurz vor Schluss fragt Moderator Stefan Raab Steinbrück, warum dieser, wenn die rot-grüne Wunschmehrheit nicht zustande kommen sollte, sich nicht als Vizekanzler einer großen Koalition zur Verfügung stellen wolle. Täte er das, würde er, Raab, eine Wahl Steinbrücks in Erwägung ziehen. Steinbrück lehnt seine Beteiligung an einer Großen Koalition dennoch ab. Er glaube, sagt er, an einen rot-grünen Sieg. Merkel will keine Große Koalition, zieht diese aber als Ultima Ratio in Erwägung. Letztlich würde die Union in so einem Falle dem Land dienen, während Steinbrück offenbar nur das Wohl seiner Partei im Auge habe. Das ist nicht ganz richtig. Denn Steinbrück schließt eine Große Koalition nicht aus, nur seine persönliche Beteiligung daran in führender Stellung. Also ein halber Punkt für Steinbrück
Fazit: Beide Kontrahenten verstehen es aufs Beste, bei Bedarf den gestellten Fragen auszuweichen und stattdessen einstudierte Programme abzuspulen. Nur selten gelang es den Moderatoren, den beiden Kandidaten mehr als Routineantworten zu entlocken. Neues haben wir kaum erfahren.
Dafür glänzten die Kontrahenten mit bekannten Wahlversprechen, deren spätere Realisierbarkeit mit guten Argumenten angezweifelt wird. Dass die Rentenpläne beider Parteien kaum finanzierbar sein dürften: Allein das ist sicher. Merkel hütete wie erwartetet ihre Zunge, während Steinbrück Klartext probte, aber damit nicht immer richtig lag.
Note: Zählen wir die oben vergebenen Punkte zusammen, liegen Steinbrück und Merkel Kopf an Kopf, mit leichten Vorteilen für Steinbrück. Im Ergebnis kommt unser Faktencheck zu einem leistungsgerechten Unentschieden. Von einer Verlängerung bitten wir abzusehen.
Anmerkung: Der Faktencheck prüft, ob die Kontrahenten die Wahrheit sagen oder nicht, ob die Aussagen sachlich richtig, die vorgeschlagenen Mittel geeignet sind, das angegebene Ziel zu erreichen. Ob aber das jeweilige Ziel an sich politisch erstrebenswert ist, kann ein Faktencheck nicht sagen. Auch das Urteil darüber, wie schwer ein Punkt letztlich wiegt, kann nur jeder Wähler für sich selbst fällen - zum Beispiel hier im Wahl-O-Maten.