Münchhausen-Check Nahles' Mär von der gerechten Rente

Andrea Nahles versprach, dass die Rentenreform der Großen Koalition "Altersarmut in der Zukunft verhindert". Nun liegen Pläne und Zahlen auf dem Tisch. Die SPIEGEL-Dokumentation macht den Faktencheck: Hat die Ministerin Wort gehalten?
Von Hauke Janssen
Bundesarbeitsministerin Nahles: Bärendienst für die Generationengerechtigkeit

Bundesarbeitsministerin Nahles: Bärendienst für die Generationengerechtigkeit

Foto: Daniel Naupold/ dpa

Ende November 2013: Die Delegationen von CDU/CSU und SPD hatten sich gerade über den Koalitionsvertrag geeinigt; nur noch die Parteigremien mussten zustimmen. Das war im Falle der SPD allerdings ein wenig umständlich; denn hier hatte die Parteibasis bekanntlich das letzte Wort.

Also versprach die, wie man damals noch nicht wusste, designierte Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles ihren Genossen, dass das vereinbarte Rentenkonzept "Altersarmut in der Zukunft verhindert", ohne zukünftige "Beitrags- und Steuerzahler" zu belasten .

Schon im Wahlkampf hatten Union und SPD die Altersarmut zum Thema gemacht und mit Versprechungen über Mindest- und Zuschuss-Renten für langjährige Einzahler gewetteifert.

Ursula von der Leyen (CDU) erfand die "Lebensleistungsrente", die SPD konterte mit einer "Solidarrente" von 850 Euro im Monat; die CSU packte die Anrechnung von Mütterjahren hinzu, die Sozis die Anrechnung von Zeiten der Arbeitslosigkeit - außerdem wollten die Genossen weg von der Rente mit 67. Weite Teile der Reform sollten 'solidarisch' über Steuern finanziert werden.

Als Medien der SPD vorhielten, dass die von ihnen anvisierte Rentenreform bis zum Jahr 2030 insgesamt mehr als 50, vielleicht sogar 90 Milliarden Euro kosten könne, reagierte Parteichef Sigmar Gabriel dünnhäutig, sprach von "Panikmache" und der Verbreitung von "Horrorzahlen". Nach einem Münchhausen-Check, der die Finanzierbarkeit der Reform bezweifelte, verkündete Gabriel am 19. Dezember 2012 per Twitter, dies sei kein "Faktencheck", sondern nur ein "Propaganda Check"  - denn alle Zahlen kämen von der CDU - gemeint war das zuständige Bundesministerium.

Diesmal, Herr Gabriel, kommen alle Zahlen von der SPD.

Altersarmut - Problem der Zukunft?

Und wie aus dem Gesetzentwurf der neuen Sozialministerin, Andrea Nahles , hervorgeht, geht man dort mittlerweile von zusätzlichen 60 Milliarden Euro bis 2020 und sogar von insgesamt 160 Milliarden Euro Mehrkosten bis 2030 für die Rentenreform aus.

Doch für ein großes Ziel lohnt bekanntlich eine große Anstrengung. Fragt sich nur, ob die Große Koalition mit dieser kostspieligen Reform dem Ziel der Bekämpfung zukünftiger Altersarmut entsprechend näherrückt?

Die Antwort lautet: wahrscheinlich nicht.

Und das meinen nicht nur vorausschauende Journalisten, sondern auch Ökonomen wie Lars P. Feld, Manuel Kallweit und Anabell Kohlmeier vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Sie legten eine Studie über Verteilungseffekte diverser "Maßnahmen zur Vermeidung der Altersarmut"* vor, in der sie unter anderem auch - vereinfachte Versionen - der genannten Reformvorschläge der Parteien auf ihre Verteilungswirkungen, und zwar über die Generationen hinweg, untersuchten.

Denn die meisten empirischen Arbeiten, so schreiben Lars Feld (einem Ranking der "FAZ" zufolge, derzeit der einflussreichste Ökonom Deutschlands)  und seine Kollegen vom Statistischen Bundesamt, deuteten auf eine Zunahme von Altersarmut hin, etwa wegen der hohen Arbeitslosigkeit in der Vergangenheit oder der letzten Rentenreformen. Altersarmut, so behaupten die Sachverständigen, sei weniger ein gegenwärtiges als ein zukünftiges Problem.

Von den Reformansätzen der Parteien profitierten aber, so die Studie, vor allem "die heutigen älteren Erwerbstätigen mit niedrigem Einkommen", während die "Mitglieder zukünftiger Generationen durch die einzelnen Reformalternativen Wohlfahrtverluste erleiden würden".

Niedrig verdienende Arbeitnehmer, die heute vom Alter her "dem Renteneintritt nahe sind" sind, bekämen zukünftig nicht nur höhere Renten, sie wären zugleich "nur in geringem Maße von den notwendigen Gegenfinanzierungsmaßnahmen betroffen" - sprich von Steuern und Versicherungsbeiträgen.

Nachteilige Wirkung auf Arbeitsvolumen und Wachstum

Für diese Generationen entstünde sozusagen ein Einführungsgewinn, der von den zukünftigen Generationen getragen werden müsse, während diese, also die heute jungen Leute, über ihr gesamtes zukünftiges Arbeitsleben mit höheren Steuern und relativ höheren Rentenversicherungsbeiträgen rechnen dürften.

Außerdem, auch das zeigt die zitierte Analyse, wirkten sich die Rentenreformpläne von Union und SPD nachteilig auf die künftige Entwicklung von Arbeitsvolumen, Kapitalstock und Wachstum der deutschen Volkswirtschaft aus, und zwar ansteigend negativ im Laufe der Jahre.

Die Tendenz der Ergebnisse lässt sich durchaus auf den diese Tage bekannt gewordenen Gesetzentwurf der Großen Koalition übertragen, denn er führt ja nur die wesentlichen Elemente der Vorschläge von SPD und Union zusammen.

Am Ende bleibt die pessimistische Einschätzung der Ökonomen, dass Parteien, die "ihren Stimmanteil bei Bundestagswahlen maximieren" wollen, dazu tendieren, Rentenreformen, die tatsächlich künftigen Generationen dienen, zu "verschieben" oder zu "unterlassen", um lieber die derzeitige Klientel zu bedienen.

Mit älter werdendem Wahlvolk dürften also Rentenreformen für spätere Generationen immer schwieriger politisch durchzusetzen sein.

Fazit: Die Rentenreform der Großen Koalition erweist der Generationengerechtigkeit einen Bärendienst. Frau Nahles hat nicht Wort gehalten: Weder dient die Reform vorrangig der Bekämpfung künftiger Altersarmut, noch bleiben künftige Beitrags- und Steuerzahler unbelastet.

Note: Ungenügend (6)


*Literatur: Lars P. Feld, Manuel Kallweit, Anabell Kohlmeier: "Maßnahmen zur Vermeidung der Altersarmut: Makroökonomische Folgen und Verteilungseffekte", in: Perspektiven für Wirtschaftspolitik, Heft 3/4 (August/November) 2013, S. 279-304.

Kennen Sie unsere Newsletter?
Foto: SPIEGEL ONLINE

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten