Ein Jahr nach Mord an Walter Lübcke "Es ist der Auftrag, sich nicht wegzuducken!"
Michael Brand, Mitglied des Bundestags (CDU)
"Es gibt so Dinge und Begegnungen mit Menschen, da passt es einfach, und Walter passte einfach in die Welt. Er war einer, der sehr zugänglich war, der auf die Menschen zuging, der fröhlich war, der immer auch ein Schalk im Nacken hatte. Und deswegen habe ich den Schmerz in mir und vermisse ihn und ich hätte mir nie träumen lassen, dass eines Tages mein Freund eine Kugel im Kopf bekommt. Von Rechtsextremisten."
Der Schlossgarten in Fulda: Vor einem Jahr traf der hessische Bundestagsabgeordnete Michael Brand hier seinen Freund und politischen Weggefährten Walter Lübcke - es war eine ihrer letzten Begegnungen. Wenige Tage später, in der Nacht auf den 2. Juni 2019, wurde der Kasseler Regierungspräsident auf der Terrasse seines Hauses aus nächster Nähe erschossen.
Eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik: Zum ersten Mal tötete ein Rechtsextremist wohl gezielt einen Politiker.
Walter Lübcke war wegen seiner Haltung in der Flüchtlingskrise zur Hassfigur von Rechtsradikalen geworden. Nachdem er bei dieser Bürgerversammlung im Oktober 2015 die Unterbringung von Geflüchteten verteidigte, erhielt der CDU-Politiker regelmäßig Morddrohungen.
Michael Brand, Mitglied des Bundestags (CDU)
"Er hat mir geschildert, wie wenige Minuten vor der Veranstaltung mehrere Leute in den Saal als Gruppe reingekommen sind, sich direkt vor ihn gesetzt haben und auch im Saal verteilt haben, die Veranstaltung gestört haben, den Staat verächtlich gemacht haben und dass sie bewusst provoziert haben. Daraufhin hat er eine Aussage gemacht. Jeder hat verstanden, um was es ging, nämlich dass man für Werte eintreten muss und dass man das ordentlich macht mit den Flüchtlingen, die zu uns gekommen sind, und die, die dort gestört haben, die dann auch in dem Video zu hören sind, der vermutlich spätere Täter, die haben das getan, um ihn am Ende auch im Internet zur Zielscheibe zu machen, um ihn freizugeben. Und das ist das Perfide."
Der Fall Lübcke hat deutlich gemacht: Wer in Deutschland ein politisches Amt innehat, begibt sich in Gefahr.
2019 gaben 41 Prozent der Bürgermeister und Bürgermeisterinnen in Deutschland an, schon einmal beleidigt, beschimpft, bedroht oder sogar angegriffen worden zu sein. Ein Jahr später sind es sogar Zweidrittel.
Wie gehen Politiker damit um, wenn sie zur Zielscheibe von Hass und Gewalt werden? Darüber haben wir mit diesen drei Betroffenen gesprochen.
Hakan Taş ist 53 Jahre alt und Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses für die Fraktion DIE LINKE. Als gebürtiger Türke hassen ihn Rechtsextreme, als Kurde ist er im Visier von Erdogan-Anhängern, weil er offen schwul lebt, feinden ihn Homophobe an. Nicht einmal zu Hause fühlt er sich noch sicher.
Hakan Taş, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhaus, DIE LINKE
"Das ist an der Tür, morgens, als ich die Wohnung verlassen wollte, da mache ich die Tür auf und sehe auf einmal, dass da auf der Tür was drauf ist. Und als ich dann gelesen habe, was da stand, dachte ich: Ups, jetzt sind sie bis vor der Wohnungstür gewesen. Da habe ich einen Schreck bekommen. Das war wirklich ein ganz schlimmes Gefühl. Ich habe in dem Moment wahrscheinlich Glück gehabt, dass sie mich nicht direkt im Hausflur erwischt haben."
Taş sagt, er habe hat in den vergangenen Jahren hunderte Anzeigen erstattet – alle Ermittlungsverfahren seien eingestellt worden. Obwohl er ein großes Netzwerk in Berlin hat, fühlt er sich manchmal allein gelassen. Die Angst vor Übergriffen sitzt tief.
Hakan Taş, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhaus, DIE LINKE
"Das spüre ich immer wieder, dadurch, dass ich nachts unruhiger schlafe, ich immer wieder wach werde, geräuschempfindlicher geworden bin. Oder wenn ich merke, dass mir irgendwelche Menschen folgen. Dann werde ich auch umso unruhiger. Dann laufe ich schneller und versuche, irgendwo erst mal rein zu gehen. Aber ich habe nicht aufgegeben, ich werde nicht aufgeben und das ist auch wichtig."
Seit neun Jahren ist Carola Veit Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft. Die SPD-Politikerin bekommt regelmäßig Drohmails: Die meisten schreiben anonym – und überschreiten dabei jegliche Grenzen:
Carola Veit, Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft
"Es ist tatsächlich ganz viel sexualisierte Gewalt, wo man sich gar nicht vorstellen möchte, was der Schreiber da alles für Fantasien hat. Das ist auch ganz klar, dass das alles Männer sind, die das schreiben. Und sie beziehen diese sexualisierten braunen Fantasien dann auch gerne meine Kinder."
Veit hat festgestellt, dass sich die Attacken immer dann häufen, wenn sie als Präsidentin die AfD in der Bürgerschaft zurechtweist.
Anzeigen hat Veit schon oft erstattet, ein Absender konnte bislang nur ein einziges Mal ermittelt werden. Mittlerweile hat sie sich angewöhnt, einige der Hassmails auf Twitter zu veröffentlichen.
Carola Veit, Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft
"Ich ekel mich natürlich, das ist abstoßend, eklig, widerlich, aber auch diese Gefühle darf man nicht so lange zulassen. Es gibt eben nicht viele Handlungsmöglichkeiten. Wenn mir jemand einen Stein in die Scheibe meines Abgeordnetenbüros schmeißt, dann ruf ich die Polizei, dann kontaktier ich die Versicherung, dann ruf ich den Glaser an. Ich habe eine Handlungsmöglichkeit, das wiedergutzumachen. Das ist bei diesen Hassmails, wo man den Absender auch nicht kriegt, natürlich anders."
Die Kleinstadt Abensberg in Niederbayern: Uwe Brandl ist hier seit 27 Jahren Bürgermeister. Er liebt sein Amt. Doch in den letzten Jahren sei der Umgang mit Politikern rauer geworden, sagt er. Selbst da, wo eigentlich jeder jeden kennt.
Uwe Brandl, Bürgermeister von Abensberg (CSU)
"Am 11. März ging diese Postkarte ein: 'Du Verbrecher hättest vor 30 Jahren schon vergast gehört. Unbebaute Grundstücke, die vielleicht in fünfter Generation bebaut werden, gehen dich Ratte gar nichts an. Deine Alte hast du Hurensohn nach Strich und Faden betrogen, verdiente Mitarbeiter in der Stadt gemobbt. Du Drecksau gehörst ans Kreuz genagelt und aufgehängt.'"
Brandl meldete den Drohbrief bei der Polizei. Ihn ärgert: Selbst wenn der Verfasser identifiziert wird, habe er oft nichts zu befürchten.
Uwe Brandl, Bürgermeister von Abensberg (CSU)
"Wenn es dann doch einmal dazu kommt, dass man jemanden ausfindig macht, dann kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Gerichte eher zu der Auffassung, dass ein politischer Akteur so zu tolerieren hat, die Meinungsäußerungsfreiheit zählt."
Seit zwei Jahren ist Brandl auch Präsident des deutschen Städte- und Gemeindebundes und kämpft für den Schutz von Kommunalpolitikern in ganz Deutschland.
Für den Freistaat hat er bereits - unter anderem mit dem bayerischen Justizminister- einen Drei-Punkte-Plan auf den Weg gebracht:
· Hassmails sollen in Zukunft online an die Justiz übermittelt werden
· bei jeder Staatsanwaltschaft soll es einen Ansprechpartner für Politiker geben
· Hassnachrichten sollen härter bestraft werden
Worten können Taten folgen – das hat der Mord an Walter Lübcke gezeigt. Michael Brand, sein Weggefährte, ist überzeugt, dass jeder gegen Hass und Hetze standhaft bleiben muss:
Michael Brand, Mitglied des Bundestags (CDU)
"Meine Konsequenz seit dem 2. Juni 2019 ist, dass ich nichts mehr unwidersprochen lasse. Man muss Lügen entlarven, und das ist etwas ganz Entscheidendes. Das gilt nicht nur für uns Politiker, das gilt für jeden. Dass er an seiner Stelle, in der Familie, im Freundeskreis, im Verein, da, wo Dinge abdriften, klar benennt. Und wenn ich jetzt ein Lächeln im Gesicht habe, dann denke ich an Walter. Der hätte genau das gesagt, nicht wegducken. Es kann doch nicht wahr sein, dass ein Leben ausgelöscht wird, weil es für unsere Werte einsteht. Nein, unser Auftrag ist, gegen Extremisten, für unsere Demokratie zu kämpfen und das Wort zu ergreifen und sich nicht wegzuducken."