Flüchtlinge in deutschen Familien "Die Kinder sind aus dem Haus, wir haben Platz"

Kaffeekränzchen in Wildeshausen: Mahmoud und Alaeldin gehören zur Familie
Foto: SPIEGEL ONLINEIn seinem früheren Leben ist Alaeldin Hirte. Jeden Morgen treibt er die Schafe der Familie durch den Busch rings um sein kleines Dorf in Darfur im Westen des Sudan. Auch an dem Tag, der sein Leben für immer verändern sollte, wacht er über die Tiere.
Es ist spät und Alaeldin mit der kleinen Herde auf dem Heimweg. Schon von Weitem sieht er die Flammen. Rauchwolken stehen über seinem Dorf. Männer schießen mit Maschinengewehren. Er hört die Angstschreie. Alaeldin zögert kurz, dann dreht er sich um und rennt. Er rennt und rennt, erst viele Kilometer später hält er an. Zwei Jahre ist das her, Alaeldin war damals 17 Jahre alt. Wer die Angreifer waren, weiß er bis heute nicht.
Jetzt sitzt Alaeldin in Wildeshausen vor Kaffee und Streuselkuchen. Er hat sich eine blonde Strähne in das pechschwarze Haar gefärbt, quer über den Kopf.

Alaeldin war 17 Jahre alt, als er allein aus dem Sudan flüchtete
Foto: SPIEGEL ONLINEVor sieben Monaten haben Kerstin Bach und ihr Mann Dirk Glatthaar den 19-jährigen Flüchtling in ihrem Haus in Niedersachen aufgenommen. Zum ersten Mal in seinem Leben hat Alaeldin jetzt ein eigenes Zimmer. Im Sudan lebte er zusammen mit seinen Geschwistern in einem runden Haus. Aus Lehm gebaut, mit einem spitzen Strohdach.
Mit dem Boot über das Mittelmeer nach Europa
Niemand weiß, ob Alaeldins Geschichte wirklich so passiert ist. Fest steht: Der junge Mann hat eine weite Reise hinter sich. Auf der Ladefläche eines LKW sei er durch den Tschad bis nach Libyen gefahren, erzählt er. Von dort über das Mittelmeer nach Europa. Drei Tage sei er mit 105 anderen Flüchtlingen auf einem kleinen Holzboot unterwegs gewesen. Kurz vor der italienischen Küste sei das Boot gekentert. "Die schwimmen konnten, sind geschwommen", sagt Alaeldin. Diejenigen, die nicht schwimmen konnten, seien ertrunken. "Mütter mit Kindern, die konnten nicht schwimmen."
Vor rund anderthalb Jahren kam Alaeldin nach Deutschland. Ob er hier bleiben darf, weiß er nicht. Sein Asylantrag ist noch nicht bearbeitet. Also wartet er und hofft, genauso wie Kerstin Bach und Dirk Glatthaar.

Mahmoud (l.) und Alaeldin: In Deutschland ein Zuhause bekommen
Foto: SPIEGEL ONLINE"Bei so jungen Menschen übernimmt man automatisch eine Elternrolle", sagt Dirk Glatthaar. "Manchmal muss man sie ein bisschen erziehen, gerade wenn es um typisch deutsche Verhaltensweisen geht." Auch das Ehepaar lerne von seinem sudanesischen Schützling. Das Wort "Shukran" zum Beispiel - "Danke" auf Arabisch.
"Am Anfang fanden wir es unhöflich, wenn Alaeldin mit gesenktem Kopf am Tisch saß", sagt Dirk Glatthaar. Inzwischen hätten sie erfahren, dass es im Sudan als Zeichen von Respekt gilt, Älteren beim Sprechen nicht in die Augen zu blicken. "Es ist spannend, wenn zwei Kulturen in einem Haushalt leben", sagt er.
Wenigstens einem Menschen helfen
Alaeldin gehört inzwischen zur Familie. "Wir haben nicht lange überlegt, ob wir das machen wollen", sagt Dirk Glatthaar. "Die Kinder sind aus dem Haus, wir haben Platz, und die Flüchtlingskrise betrifft uns alle." Freunde von ihnen, Ulrike und Walter Prinzwald, hätten vor einem halben Jahr die Idee gehabt. Sie wollten helfen, wenigstens einem Menschen. Gemeinsam stellten sich die beiden Ehepaare beim Deutschkurs für Flüchtlinge an der Volkshochschule Wildeshausen vor. "Ein merkwürdiges Gefühl, sich einen der Flüchtlinge aussuchen zu müssen", sagt Ulrike Prinzwald.
Irene Gerding leitet die Sprachkurse an der Schule und vermittelte zwischen den Ehepaaren und den Migranten. "Wir wollten zwei Jungs eine Chance geben, die die Hilfe am nötigsten haben", sagt sie. Keine einfache Entscheidung, bei so vielen Einzelschicksalen. Am Ende waren es Alaeldin und der 22-jährige Mahmoud aus Syrien, die bei den deutschen Familien einziehen durften. Die Gemeinde übernimmt die Miete für die Zimmer und zahlt den beiden Flüchtlingen ein Taschengeld.
"Es ist das Beste, was ihnen passieren konnte", sagt Irene Gerding. "Die Entwicklung der beiden ist unglaublich." Mahmoud, der bei den Prinzwalds untergekommen ist, sei sehr schüchtern gewesen. "Vor ein paar Monaten hat er noch Schweißausbrüche bekommen, wenn er mit mir gesprochen hat", erzählt die Lehrerin. Davon ist nichts mehr zu sehen - der Junge mit den blauen Augen scherzt lautstark und gestikuliert wild, während er spricht.
Sein Deutsch ist noch nicht so gut wie Alaeldins. Mahmoud lebt erst seit einem Jahr in Deutschland, aber im Gegensatz zu seinem sudanesischen Freund ist sein Asylantrag bereits bewilligt. Er darf bei den Prinzwalds bleiben und zwar solange er möchte. "Wir haben kein Zeitlimit, wir wollen ihn auf den richtigen Weg bringen", sagt Ulrike Prinzwald. Er solle erst einmal Deutsch lernen, dann eine Ausbildung machen, sagt sie. "Wenn er will."

Auf dem Klingelschild der Prinzwalds steht jetzt auch der Nachname von Mahmoud
Foto: SPIEGEL ONLINEMahmouds Handy klingelt. "Mama", sagt er und steht auf. Als er zurückkommt, fragt Ulrike Prinzwald ihn, wie es seiner Mutter geht. Mahmoud lächelt nur unsicher und schweigt. Einmal wollte Mahmouds Mutter mit Ulrike Prinzwald sprechen. "Sie hat auf Arabisch ins Telefon geschrien", erzählt sie. Mahmoud habe ihr danach erklärt, dass seine Mutter sich bedankt habe: Die Deutsche sei eine "gute Frau".
Mahmouds Mutter lebt noch in Syrien, so viel wissen die Prinzwalds. Sonst erzählt der 22-Jährige nur wenig über seine Familie. "Vielleicht kommt das noch", sagt Ulrike Prinzwald. "Wir müssen ihm Zeit geben."
Zusammengefasst: Zwei Familien aus Wildeshausen wollten die Flüchtlingskrise nicht länger tatenlos mitansehen: Die befreundeten Ehepaare haben je einen Flüchtling bei sich aufgenommen. Miete und Taschengeld zahlt die Gemeinde, um Erziehung und Förderung der Jugendlichen kümmern sich die deutschen Familien. Das Zusammenleben funktioniert, beide lernen voneinander.