Familien im Existenzkampf Arme Kinder, reiches Land

Sie haben kein eigenes Bett, bekommen nie Taschengeld, gehen ohne Pausenbrot zur Schule. 2,5 Millionen Kinder in Deutschland wachsen in Armut auf. SPIEGEL ONLINE hat sechs getroffen: Wie meistern sie die Nöte ihres Alltags - und was erwarten sie vom Leben?

Hamburg - Wenn arme Kinder erzählen, dann berichten sie von einem harten Alltag voller Verzicht. Nicht nur materiell. Sie gehen nicht ins Kino oder ins Hallenbad. Haben kein Spielzeug, leiden unter Mobbing - weil sie keine schicken Klamotten tragen, nie in den Urlaub fahren, nie am Wochenende mit den Eltern einen Ausflug machen - oder ihr Vater abgehauen ist.

SPIEGEL ONLINE hat Kinder aus Familien besucht, die unter schwierigen Bedingungen ins Leben starten. Ihre Schicksale sind einzigartig, bedrückend - stellvertretend für Millionen Kinder in Deutschland:

Kinderarmut in Deutschland - die Debatte und die Fakten

2,5 Millionen Kinder in Deutschland wachsen in Armut auf, hat der "Kinderreport 2007" enthüllt. Das Phänomen Kinderarmut ist seit Jahren bekannt. Trotzdem bekommt ein reiches Land wie die Bundesrepublik es nicht in den Griff - oder will es nicht. Kinder haben keine Lobby, arme Familien schon gar nicht. Immer häufiger bleiben die Betroffenen in isolierten Wohnvierteln unter sich, ohne gute Schulen und ausreichend soziale Unterstützung. Regelrechte Armensiedlungen.

Sozialverbände kritisieren, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht: Die Konjunktur brummt, gleichzeitig wächst die Zahl der armen Kinder. Grundschüler kommen mit löchrigen Hosen und knurrendem Magen zur Schule. "Ein normales Frühstück ist für viele Schüler mittlerweile etwas ganz besonderes", beobachtet Manfred Baasner, Gründer der "Wattenscheider Tafel", die Lebensmittel an Bedürftige verteilt. In Berlin leben einem neuen Bericht zufolge 38,5 Prozent aller Kinder in Haushalten, die Unterstützung vom Staat bekommen.

Lehrer bemängeln, dass in vielen Familien Bildung kein Wert mehr ist. Durch hohen Fernseh- und Computer-Konsum verfällt die Fähigkeit, sich sprachlich auszudrücken - auch bei Kindern ohne Migrationshintergrund. Die schulischen Probleme ihrer Kinder interessieren Eltern immer weniger. "Gerade die Eltern, deren Kinder Probleme haben, kommen nicht zum Elternsprechtag", berichtet eine Hamburger Lehrerin aus ihren Erfahrungen. "Die Eltern wollen sich keine Vorhaltungen machen lassen."

Nicht mal zu Hilfsarbeiten in der Lage

Dem Kinderreport zufolge verlässt jedes vierte Kind die Schule, ohne ein Mindestmaß an Kulturtechnik zu beherrschen: Selbst zu Hilfsarbeiten sind sie demnach nicht in der Lage. Tendenz steigend. Eine Bankrotterklärung für die Gesellschaft. Der Report prognostiziert mittelfristig gravierende Folgen für die volkswirtschaftliche Leistung.

Vielen Kindern aus sozial schwachen Familien ist ihre Lage sehr bewusst. Hänseleien sind an der Tagesordnung. Armut drückt sich nicht nur durch fehlende finanzielle Mittel aus sondern auch durch Frustration, durch das Gefühl zum abgehängten Teil der Gesellschaft zu gehören. Das zeigte sich auch jüngst in einer Studie der ZDF-Medienforschung zum Thema Kind und Glück. Den Ergebnissen zufolge macht Geld sehr wohl glücklich: So bezeichneten sich 46 Prozent derjenigen, die über ein monatliches Nettoeinkommen von mehr als 3000 Euro verfügen, als "total glücklich". Bei den Kindern aus Familien mit einem Einkommen von unter 1500 Euro waren es dagegen lediglich 24 Prozent.

Die Kinder entwickeln oft einen Verdrängungsreflex, um mit der Armut besser umgehen zu können, beobachtet Brigitte Krause, Leiterin der evangelischen Kindertagesstätte "Fischkutter" in Rostock. "Die Kinder nehmen oft gar nicht mehr wahr, wie arm sie in Wirklichkeit sind. Sonst könnten sie ihr Leben auch gar nicht ertragen."

Hinzu kommt für arme Kinder oft, dass familiäre Strukturen oft fehlen: Die Frau hat viele Kinder von vielen Männern - und die verabschieden sich häufig schnell von der Familie. Unterhalt zahle kaum ein Mann, sagt Wolfgang Büscher vom Berliner Kinder- und Jugendhilfswerk "Arche". "Die meisten armen Kinder wachsen in einer väterlosen Gesellschaft auf." Oft wüssten die Kleinen gar nicht, was das Wort Papa eigentlich bedeute, sagt Büscher: "Die Kinder nennen einen Mann Papa, der kurz mit ihnen Fußball spielt."

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren