FDP im Abwärtstaumel Extremisten der Mitte

Guido Westerwelle: Selbsterklärter letzter Vertreter "der deutlichen Worte"
Foto: ddpVerblüffend ist es schon. Die Liberalen haben ihre elf Jahre in der Opposition konzeptionell ungenutzt verstreichen lassen.
Christdemokraten, die an den Koalitionsverhandlungen im Oktober 2009 beteiligt waren, aber auch führende Landespolitiker der FDP selbst haben sich in den vergangenen Monaten konsterniert darüber gezeigt, wie wenig die Spitzenleute der Partei an präzisen Vorschlägen für die schwarz-gelbe Allianz zu bieten hatten. Die hatte sich im Kern auf das Steuersenkungsdogma reduziert. Sie war wirklich thematisch zur SSP geschrumpft - der Steuersenkungspartei.
Die christdemokratischen Koalitionspartner haben im ersten Vierteljahr der neuen Regierung heftig zu spüren bekommen, wie schwierig es ist, Politik mit einer Partei zu praktizieren, die sich ganz auf ein Thema verengt hat. Jahrelang hatten die Neu-Liberalen sich selbst als die Pragmatiker und Realisten charakterisiert. Nun stellte sich heraus, dass gerade die Westerwelle-Kohorte mindestens in Steuerfragen auch noch im Jahr 2010 so ideologisch auftrat, wie während der siebziger Jahre einige ihrer weit links stehenden Kontrahenten in ihrem Bekenntnis zur Vergesellschaftung.
Für diese war damals die Sozialisierung der Produktionsmittel Quell allen gesellschaftlichen Heils. Für jene ist jetzt der niedrige Steuersatz der Schlüssel schlechthin für Wohlstand und Fortschritt.
Merkwürdig - schließlich haben sich seit den späten neunziger Jahren Christdemokraten, Grüne und Sozialdemokraten erheblich gewandelt. Sie haben in viele Positionen revidiert, die lange als unantastbar galten. An allen drei Parteien sind die großen gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen zwei bis drei Jahrzehnte nicht eben spurlos vorrübergegangen.
Die Lernprozesse waren nicht einfach, manchmal sogar schmerzhaft, doch letztlich hat man sich tiefgreifend verändert. Allein die Freien Demokraten, die Befürworter offener Systeme, die Künder der undogmatischen Flexibilität, die Herolde des empirischen Pragmatismus sind starr in den neunziger Jahren stehengeblieben.
Eine Diskussion über die Ambivalenzen entregulierter Märkte? Über Eigenverantwortung ohne Solidaritätsbezüge? Derlei Debatten haben die Freien Demokraten gemieden und stattdessen stets auf ihre verstaubten programmatischen Grundsätze von 1997 hingewiesen, mit der Attitüde: Ihr Liberalismus galt, gilt und wird auch weiter gelten.
Der Liberalismus der FDP ist derzeit das einzige dogmatisch angewandte politische Reglement. Die weltanschaulichen Systeme wie der sozialdemokratische Sozialismus, die grüne Politische Ökologie oder der christdemokratisch vereinnahmte Katholizismus haben sich dagegen ihrer orthodoxen Kerne entledigt.
Mit dem Eintritt der FDP in die Bundesregierung kehrte "ein doktrinäres Element auf die politische Bühne zurück", wie es schon Mitte Oktober 2009 der Soziologe Wolfgang Engler prognostiziert hatte.
Hotelgeschenke statt sauberer Ordnungspolitik
Gerade aber die ideologische Pose diskreditiert sich zwangsläufig vor den ernüchternden Kompromissen einer hochdifferenzierten Verhandlungsdemokratie. Die Diskrepanz zwischen maximalen Versprechungen hier und bescheidenen Ergebnissen dort lädt förmlich zu höhnischen und hämischen Reaktionen ein.
Exakt das passierte den Freien Demokraten bekanntlich im ersten Quartal ihrer neuen Regierungszeit nach elf Jahren Opposition. Sie hatten saubere markwirtschaftliche Ordnungspolitik versprochen und die radikale Vereinfachung des Steuerrecht in Aussicht gestellt.
Stattdessen kam die Mehrwertsteuerreduzierung für Hoteliers.
Im Wahlkampf hatten die Freien Demokraten forsch ihr "Liberales Sparbuch" in die Luft gestreckt und fast ein halbes Tausend Einsparmöglichkeiten propagiert. Hernach war wenig davon zu hören. Der Generalsekretär hatte in Oppositionszeiten die Abschaffung des Entwicklungshilfeministeriums gefordert; dann stattete er sich mit den Insignien ministerieller Würden an der Spitze eben dieses Ministeriums aus. Woche für Woche gingen folgerichtig die Sympathiewerte der Wähler für die Freien Demokraten zurück.
In dieser Situation schlüpfte Parteichef Guido Westerwelle wieder zurück in die Rolle, die er am besten beherrschte, die er in seinem politischen Leben bis dahin auch allein ausgefüllt hatte: die des oppositionellen Kampagnenführers.
Westerwelle greift zum Mittel der Großspurigkeit
Ein wenig wirkte Westerwelles Wandlung so, als würde er die Krankheitssymptome seiner Partei, den Absturz in der Demoskopie, mit den Krankheitsursachen bekämpfen wollen - weil ja gerade die Großspurigkeit der Oppositionsansprache erheblich zu den nachfolgenden Frustrationen über die Regierungspraxis beigetragen hatte.
Verwunderlich war auch, dass Westerwelle die politische Methode der Jahre 2001/2002 reaktivierte, um der freidemokratischen Baisse zu entrinnen - die Provokation.
2003, nach dem Suizid , hatte man den Eindruck, dass Westerwelle ein gebranntes Kind wäre, dass er fortan die Dynamik der Eskalation scheuen würde. Denn der Provokateur darf im Prinzip nicht stehen bleiben; er muss sich von Runde zu Runde steigern, schärfer werden, seine Polarisierungen immer schneidender vortragen - Fleißige versus Faule, guter Markt gegen bösen Staat, leuchtender Liberalismus contra finsterer Sozialismus. Sonst verflacht der Impetus wieder.
Viel wirkliche Liberalität, Pluralität und Weltoffenheit bleibt dann allerdings nicht übrig. Und die von den jüngeren Liberalen vor einiger Zeit noch angestrebte Neumodellierung der FDP als eine Partei mit etwas mehr Wärme, mit einer größeren Neigung zur Fairness und Solidarität dürfte dabei ebenfalls auf der Strecke bleiben, würde man strategisch tatsächlich so fortfahren.
Jedenfalls bediente sich der aufgeschreckte Westerwelle jetzt aus dem üblichen Instrumentenkasten eines "Extremismus der Mitte". Er setzte sich als Sprecher der sogenannten schweigenden Mehrheit in Pose, als Mann der deutlichen Worte, der sich durch Auflagen einer Political Correctness in seiner Mission nicht aufhalten lässt. Er allein wage es, den permanenten Missbrauch der Sozialsysteme durch die Arbeitsscheuen und Dekadenten auf Kosten der Leistungsträger beim Namen zu nennen. So pflegten alle "Populisten der Mitte" seit dem 19. Jahrhundert zu lärmen. Neues fügte Westerwelle dem keineswegs hinzu.
Die Hemmschwelle für inszenierte Empörung lag in Deutschland hoch - bisher
Dabei mochte ihn das Beispiel der Schweizer Volkspartei (SVP) inspiriert und ihm imponiert haben. Sie organisierte als Regierungspartei zugleich den Protest der verunsicherten gesellschaftlichen Mitte oppositionell - und mehrte dabei ihre Wähleranteile. Die SVP scheute auch aussichtslose Kampagnen nicht, weil sie sich davon einen Glaubwürdigkeitsgewinn bei ihren Anhängern versprach. Und sie wütete regelmäßig gegen die Urteile des Bundesgerichts, gab sich als Repräsentantin des "gesunden Menschenverstandes" und des "Volkswillens" gegen die elitäre Weltfremdheit des "Richterstaats". Westerwelle war in den Tagen nach dem -Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht sehr weit davon entfernt.
Außerhalb Deutschlands haben Parteien der "entrüsteten Mitte" seit den späten achtziger Jahren durchaus Punkte gemacht, sind oft zu den stärksten oder zweitstärksten Formationen im bürgerlichen Lager ihrer Gesellschaften aufgestiegen. In Deutschland aber lag die Hemmschwelle für die Methode inszenierter Empörung bislang recht hoch.
Das muss nicht so bleiben. Das braucht aber auch nicht zwingend anders zu werden. Es kommt darauf an, wie groß die Zahl der Liberalen in der FDP noch ist.
Zumindest in früheren Jahren zauderte Westerwelle dann doch im selbst entfesselten Prozess der Zuspitzung, wenn ihm die Dinge dabei außer Kontrolle zu geraten schienen. Er pflegte dann zurückzurudern.
Überhaupt: Als Außenminister kann man die schrille Tonlage schwerlich als Charakteristikum des eigenen Stils mit sich herumführen. Die FDP wird andere Wege finden müssen.