FDP in der Krise Röslers Kamikaze-Truppe nimmt Koalition unter Feuer

FDP-Chef Rösler (auf einer Gasförderplattform in der Nordsee): Verharren im Umfragekeller
Foto: Rainer Jensen/ dpaBerlin - Sylvia Canel ist bisher nicht besonders aufgefallen. Seit 2009 sitzt die Hamburgerin für die FDP im Bundestag, hineinkatapultiert durch das Traumergebnis der Liberalen bei der Wahl im September vor zwei Jahren. Ihre Fraktion hat sie in den Bildungsausschuss geschickt, Canel macht ihre Arbeit, hält sich ansonsten zurück. Wenn sie in der Presse auftaucht, dann in den Lokalmedien der Hansestadt. Alles wie immer also, als die 53-Jährige in dieser Woche in einer Talkrunde des örtlichen TV-Senders Hamburg 1 auftritt.
Doch diesmal sagt Canel ein paar bemerkenswerte Sätze. Es geht um den Zustand der Koalition: Der Moderator fragt, ob sich die FDP für die anstehenden Landtagswahlen und die nächste Bundestagswahl nicht eine bessere Ausgangsposition verschaffen könnte, wenn sie die schwarz-gelbe Koalition in Berlin einfach "hochgehen" ließe. Canel weist das nicht etwa empört zurück oder weicht aus. Nein, sie sagt: "Ich finde den Gedanken persönlich sehr sympathisch, denn ich bin mit manchem sehr unglücklich in dieser Koalition."
Jetzt ist es raus. So offen hat in der FDP noch niemand das Bündnis mit der Union in Frage gestellt. Und das, wo doch alles besser werden sollte. Mit Philipp Rösler an der Spitze wollten die Liberalen durchstarten, wieder ein starker Partner im bürgerlichen Bündnis sein. Nun ist Rösler knapp hundert Tage im Amt, und von Aufbruchstimmung, wenn es sie denn je gab, ist nichts mehr zu spüren.
Bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin drohen die nächsten Schlappen, in den bundesweiten Umfragen verharrt die FDP im tiefsten Keller, vier Prozent verbucht das neueste ZDF-Politbarometer, und Rösler rutscht in der Beliebtheitsskala weiter ab. Da macht sich bei einfachen Abgeordneten Ratlosigkeit und Resignation breit: Hat das alles noch Sinn? Wäre ein Ende mit Schrecken nicht die bessere Alternative zum Schrecken ohne Ende in dieser Koalition - selbst wenn der eigene Job damit in Gefahr ist?
Eine "Einzelmeinung", heißt es in der FDP-Fraktionsspitze
In der Union wird schon über die Kamikaze-FDP gespottet: "Wer sich in aktuellen Umfragen in der Wählergunst knapp über oder unter der Fünf-Prozent-Hürde befindet, sollte nicht über eine Aufkündigung der Koalition spekulieren", sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe, Stefan Müller. Canels Idee sei wohl kaum mit FDP-Chef Philipp Rösler abgestimmt. Natürlich nicht, im Thomas-Dehler-Haus, der Parteizentrale will niemand die offenen Worte der Abgeordneten kommentieren - wohl auch, um ihnen nicht zu noch mehr Durchschlagskraft zu verhelfen. Im Umfeld der FDP-Fraktionsspitze winkt man ab: eine "Einzelmeinung".
Sicher, man könnte Canels Worte als Frust eines desillusionierten Neulings von der Hinterbank abtun. Vielleicht aber spricht sie nur ehrlich aus, was viele schon lange denken, aber nicht offen zu sagen wagen. Tatsächlich wachsen Unmut und Frust mit jedem Tag. Vor allem die Euro-Krise und die Aussitz-Strategie von Kanzlerin Angela Merkel zehren an den Nerven der Liberalen, die die Europäische Union immer mehr auf dem Weg in die Transferunion sehen. "In verantwortungsloser Weise" würden den Schuldenstaaten dreistellige Milliardensummen hinterhergeworfen, klagt FDP-Frau Canel, Merkel müsse schon lange wissen, "dass das so nicht geht".
Canels Fraktionskollege Erwin Lotter will zwar nicht über einen Bruch der Koalition spekulieren. Doch er warnt die Koalitionsspitzen eindringlich davor, die Kritik seiner Parteifreundin "als Einzelmeinung abzutun". Dies wäre, so der FDP-Gesundheitsexperte, ein "schwerer Fehler". Angesichts der Schuldenkrise, der Hysterie auf den Finanzmärkten könne es kein "Weiter so" geben. Die Menschen dürften nicht überfordert, der gesellschaftliche Konsens nicht gefährdet werden. "Es steht mehr auf dem Spiel als die Koalition", sagt Lotter.
Profilierung um jeden Preis
Zum Beispiel die Existenz der FDP. Mit immer neuen Vorstößen jenseits der Euro-Krise kämpft die Parteispitze um das parlamentarische Überleben. Vor allem Generalsekretär Christian Lindner durfte zuletzt die Sommerpause mit Ankündigungen füllen. So will die FDP
- die Zuverdienstgrenzen für Hartz-IV-Empfänger deutlich anheben - gegen den Willen der Union.
- Sie will die Bezugsdauer des Arbeitslosengeld I bei Älteren kürzen - auch da gibt es Widerstand in der Union.
- Beim Thema Zuwanderung zofft man sich - mal wieder - mit der CSU. "Unpatriotisch" und "wirtschaftspolitischen Unsinn" nennt Lindner mit Blick auf den Fachkräftemangel das strikte Nein der Christsozialen zu verstärkter gesteuerter Zuwanderung.
- Und dann ist da noch der liberale Dauerbrenner Steuersenkungen, die sich FDP-Chef Rösler noch vor der Sommerpause schriftlich von der Kanzlerin hatte zusichern lassen.
Rösler hat ein Versprechen einzulösen. "Ab jetzt wird geliefert", hatte er bei seiner Wahl angekündigt. Deswegen heißt es nun: Profilieren um jeden Preis - auch gegen die Koalitionspartner. Die CSU fährt ohnehin bereits ihre eigene Agenda, Horst Seehofer will bei der bayerischen Landtagswahl 2013 die absolute Mehrheit zurückerobern. Und von der CDU sind die Liberalen tief enttäuscht, man fühlt sich übergangen, missachtet, nicht mehr ernst genommen. Besondere Rücksichtnahme kann Angela Merkel da nicht mehr erwarten.
Ob es den Liberalen hilft? Wo ist das Thema, das die Laune der Liberalen aufhellen soll, das den Stimmungsumschwung bringen soll? Wo ist die Perspektive für diese Koalition? Ende September steht im Bundestag die heikle Abstimmung über den permanenten Euro-Rettungsschirm an. SPD und Grüne haben Zustimmung signalisiert. Nur, jeder in der Koalition weiß: Schwarz-Gelb muss eine eigene Mehrheit zustande bringen, sonst wäre die Regierung am Ende. Und diese Mehrheit ist - bei aller demonstrativen Zuversicht aus den Führungsetagen - nicht gesichert, zumal es auch in der Union einige Euro-Hilfen-Verweigerer und Wackelkandidaten gibt.
Doch gerade in der FDP könnte manch einer versucht sein, die Abstimmung über den Rettungsschirm zu nutzen, um dem Elend ein Ende zu bereiten. Dann könnte sich zeigen, dass Sylvia Canels Sympathien für einen Koalitionsbruch weiter verbreitet sind, als sich die Parteispitze eingestehen will. Auch wenn sie nicht offen ausgesprochen werden.