Filbinger-Debatte Merkel kuschelt mit Oettinger, Schönbohm stört die Harmonie
Stuttgart/Berlin - Herrlich strahlt die Sonne vor der Liederhalle im Zentrum Stuttgarts. Doch die Journalisten wollen die Kanzlerin einfach nicht in Ruhe lassen. Wie denn jetzt ihr Verhältnis zu Günther Oettinger sei? Was sie zur Kritik von Brandenburgs CDU-Innenminister Jörg Schönbohm an ihrem Führungsstil sage? Angela Merkel lächelt, blinzelt in die Sonne und sagt: "Die Tulpen blühen bei Euch so schön."
Das stimmt. Stuttgart ist in Sachen Vegetation der Hauptstadt Berlin in dieser Jahreszeit schon um Einiges voraus. Nur beim historischen Diskurs ist die Schwabenmetropole mit Ministerpräsident Oettinger in den letzten Tagen ein wenig ins Hintertreffen geraten: Erst die dubiose Trauerrede auf den verstorbenen früheren Regierungschef und Ex-NS-Marinerichter Hans Filbinger ("kein Nationalsozialist", "Gegner des NS-Regimes"), dann der Rückzug in Trippelschritten übers Wochenende bis zur Sitzung des CDU-Präsidiums am Montag ("ich distanziere mich").
Oettinger: "Die Debatte ist beendet"
Deshalb ist am Dienstag vor der Liederhalle in Stuttgart wieder alles im Lot. Findet zumindest Günther Oettinger, der drei Minuten vor der Kanzlerin die Szene betreten hat: "Die Debatte ist beendet", dekretiert der Ministerpräsident. Außerdem: "Wir haben keine Krise." Und: "Es gibt keinen Riss im Landesverband". Sowie: Sein Verhältnis zu Merkel sei "voll intakt". Zu Schönbohms Ärger über Merkels Oettinger-Kritik vom Freitag ("das war in der Sache schädlich") hat der Stuttgarter Regierungschef hingegen "keinen Kommentar" übrig.
Um Punkt Zwölf fährt dann Angela Merkel vor, entsteigt ihrem schwarzen Audi, hat ihren Tulpenauftritt und - der lauernde Fotografenpulk kann sein Glück kaum fassen - legt den rechten Kanzlerinnen-Arm auf Oettingers Schulter. Harmonie pur. Merkel lächelt. Oettingers Gesichtszüge entspannen sich.
Merkel hat ihn am Montag nach Berlin respektive Canossa gehen lassen. Oettinger ließ sich maßregeln. Damit hatte Merkel ihr Ziel erreicht: Den internationalen Ruf Deutschlands geschützt, Schaden von der Bundes-CDU abgewendet - und sich zukünftige Koalitionsdenkspiele offen gehalten (Jamaika, schwarz-grün), denen Oettinger mit seiner Rückkehr in die muffig-verstockte Filbinger-Ära der Bundesrepublik einen Sperrriegel hätte vorschieben können. Die Bundesbürger geben ihr Recht: Knapp zwei Drittel der Deutschen halten Merkels Reaktion auf Oettingers Trauerrede für angemessen, ergab eine Emnid-Umfrage im Auftrag des TV-Senders "N24".
Merkel ist also glücklich. Warum sollte sie Oettinger weiter im Regen stehen lassen? Denn der steht nun auch in den Umfragen unter Druck: 57 Prozent der Baden-Württemberger sehen ihren Ministerpräsidenten nach der Korrektur seiner Rede als beschädigt an, 19 Prozent fordern seinen Rücktritt, ergab eine vom Südwestrundfunk (SWR) beauftragte Umfrage. Mehr als zwei Drittel halten es aber für richtig, dass er seine Aussagen zurücknahm.
Merkel geht auf Kuschelkurs
Merkel also nimmt Oettinger in den Arm, geht auf Kuschelkurs: Seht her, die Union steht geschlossen da. Eigentlich ist sie aber heute als EU-Ratspräsidentin in Stuttgart, denn drinnen in der Halle tagt die "Europäische Konferenz für Handwerk und Kleinunternehmen", veranstaltet von der EU-Kommission. Merkel soll eine Rede halten.
Doch erstmal redet jetzt ein österreichischer Vertreter über "Frieden in Europa" und was das alles so fürs Handwerk bedeutet. Und in der ersten Reihe sitzen zwei, die gar nicht richtig zuhören: Oettinger und Merkel. Ach, sie verstehen sich so gut. Der Ministerpräsident flüstert der Kanzlerin dauernd was ins Ohr. Die lacht, nickt und sagt immer wieder "Ja, ja". Dann flüstert sie zurück. Oettinger gluckst und seine Schultern hüpfen.
Als Merkel dran ist, das Podium erklommen und die Mikrofone zurecht gerückt hat, lächelt sie erstmal jemanden in der ersten Reihe an: "Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Günther Oettinger!" Sie sei "sehr gern" nach Stuttgart gekommen. Ausführlich lobt sie Baden-Württemberg, verdanke es Wohlstand und Prosperität doch insbesondere den kleinen und mittleren Unternehmen. Da schaut Günther Oettinger zwar hoch konzentriert (wie immer), aber sehr glücklich (wie seit einer Woche nicht mehr).
Dröhnendes Schweigen in der CDU
Während sich Oettinger und Merkel in Stuttgart umarmen, dröhnt das Schweigen der restlichen CDU immer stärker. Weder jene konservativen Kräfte, die Oettinger in der letzten Woche in seiner Filbinger-Verteidigung beigesprungen waren, wollen sich äußern, noch findet Merkel in der Parteiführung öffentliche Unterstützung für ihren klaren Kurs. Insbesondere die CDU-Ministerpräsidenten scheinen das Schweigen vorzuziehen. Aber auch von Merkels Innenminister Wolfgang Schäuble und CDU-Fraktionschef Volker Kauder - beide aus Baden-Württemberg - kommt kein Wort.
Allein der Konservative Jörg Schönbohm, der im November auf dem Dresdener CDU-Parteitag nicht mehr ins Präsidium gewählt wurde, hat deutliche Worte gefunden - gegen die Kanzlerin. Damit hat er sich neben Oettinger ins Zentrum der Debatte geschoben.
Schönbohm gilt als einer der letzten authentischen Vertreter des konservativen Flügels in der Union. Schon öfter hat er Merkel in gesellschaftspolitischen Fragen in der Vergangenheit kritisiert. Berühmt blieb seine Warnung an Merkel im Jahr 2002, das "konservative Tafelsilber" der CDU nicht zu "verscherbeln". Für seine offenen Worte ist der frühere Bundeswehr-General, der erst Anfang der Neunziger in die CDU eintrat, bekannt.
Plötzlich funktioniert die Parteidisziplin
Doch Schönbohms klare Kante für Oettinger bleibt eine Ausnahme in der CDU dieser Tage. Es ist, als könne die Partei plötzlich schweigen, wo sie sich in anderen Fragen - etwa zur Steuer- oder Gesundheitspolitik - umso bereitwilliger zu Wort meldet. Plötzlich funktioniert die Parteidisziplin - wieder. In Stuttgart ist es wie in Berlin: Wer bei Unionspolitikern am Dienstag anruft, erhält fast überall dieselbe Antwort: Weder zu Merkel noch zu Schönbohm wolle man sich äußern. Man ist vorsichtig, will den Fall möglichst schnell beendet sehen.
Nur zwei wagen sich neben Schönbohm vor. Zum einen ein Mitglied von Oettingers Regierung: Baden-Württembergs Finanzstaatssekretär Gundolf Fleischer sagte, er halte "das Vorgehen der Kanzlerin für nicht angemessen". Dagegen erhält Merkel Rückendeckung von einem führenden Mitglied der Bundes-CDU, das aber darum bittet, nicht namentlich genannt zu werden. Im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE erklärt das Mitglied, Schönbohms Kritik an Merkel sei "nicht nachvollziehbar". Denn ohne die Äußerung der CDU-Vorsitzenden "wäre der Schaden noch größer gewesen". Das sei "doch absehbar gewesen". Merkel habe daher mit ihrer Entscheidung, in den Fall öffentlich einzugreifen, "völlig richtig gehandelt", so das CDU-Mitglied. "Die Frage nach der Fehleinschätzung Oettingers zum Leben und Wirken von Filbinger hat sich ja nicht erst durch die Äußerung von Frau Merkel gestellt." Sie habe auf eine bereits laufende öffentliche Debatte reagiert. Und weiter: "Insofern wird hier durch Herrn Schönbohm Ursache und Wirkung verwechselt".
Außerhalb der CDU wird Oettingers Distanzierung kontrovers kommentiert. Der Schriftsteller Rolf Hochhuth, der 1978 Filbingers Vergangenheit öffentlich machte, plädiert nun für ein Ende der Debatte: Es sei "absurd", jetzt weiter den Rücktritt Oettingers zu fordern. Dagegen sagt die Schwester des im März 1945 auf Antrag Filbingers zum Tode verurteilten und schließlich hingerichteten Wehrmacht-Deserteurs Walter Gröger, Ursula Galke, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE zur Entschuldigung Oettingers: "Meiner Meinung nach reicht sie nicht aus." Sie hält auch nach der öffentlichen Distanzierung des Ministerpräsidenten an ihrer Kritik fest: "Mit dem Satz in seiner Trauerrede, Filbinger sei ein Gegner des NS-Regimes gewesen, hat Oettinger gesagt, in welcher politischen Ecke er zu finden ist", so Galke.
In Stuttgart derweil macht Günther Oettinger auf Normalität. Minutenlang verteilt er nach Merkels Abfahrt draußen vor der Liederhalle Autogramme an eine Schulklasse. "Wie heißen Sie?", fragt er höflich eine Schülerin, um seinen Schriftzug auf dem Block des Mädchens zu personalisieren. "Marlena", sagt sie. "Ach", erinnert sich Günther Oettinger, "da gibt es ein Lied, das war toll, aber es ist viel älter als sie". Ja, einst sangen die "Flippers" von der "Marlena". Das war 1976. Da war Hans Filbinger noch Ministerpräsident. Aber diese Debatte ist ja nun beendet.