Fischer und der Tschetschenien-Krieg Rebell oder Terrorist - eine Frage des Datums

Seit dem 11. September befleißigt sich Außenminister Joschka Fischer einer differenzierteren Betrachtung des Tschetschenien-Krieges. Denn im Kampf gegen den Terror braucht der Westen den russischen Präsidenten Putin als Verbündeten. Als Abgeordneter der Grünen hatte sich Fischer noch eindeutig gegen das "grausame Morden" der Russen im Kaukasus gewandt.

Berlin - Einen Erfolg haben die Geiselnehmer in Moskau bereits erzielt. Die Welt spricht wieder über den Krieg im Kaukasus, einen seit Jahren schwelenden und immer wieder aufflammenden Konflikt. Nur die Betrachtung hat sich verändert. Joschka Fischer war einst empört. Am 19. Januar 1995 hatte der grüne Abgeordnete anlässlich des "grausamen Mordens einer nuklearen Supermacht gegen ein kleines Volk im Norden des Kaukasus" dem Bundeskanzler Helmut Kohl vorgeworfen, er habe "Tschetschenien zur inneren Angelegenheit Russlands" erklärt. Und damit entscheidend dazu beigetragen, dass in Moskau der Eindruck entstand, es habe freie Hand und könne zuschlagen.

Den Eindruck musste Russlands Präsident Putin auch irgendwann haben. Spätestens seit dem 11. September 2001 hat die Bundesregierung im Geleitzug westlicher Nationen ihre Kritik am Tschetschenien-Krieg in Watte gepackt oder ganz eingestellt - und Putin sah sich in seinem "Anti-Terror-Kampf" bestätigt. Russland war zu wichtig als Partner der internationalen Allianz gegen den Terror, als dass man den Präsidenten noch mit Fragen zu Tschetschenien belästigen wollte. So dachte auch Kanzler Schröder, als er anlässlich des Besuchs von Putin in Deutschland im September 2001 bemerkte: "Ich habe gemeint, dass es im Bezug auf Tschetschenien zu einer differenzierteren Bewertung der Völkergemeinschaft kommen muss und sicher auch kommen wird."

Am Ende dieser Differenzierung versicherte Schröder seinem Freund Putin nun die volle Solidarität im Kampf gegen die Terroristen, die in Moskau die Geiseln genommen haben. Kein differenziertes Wort über die Entwicklung des Konflikts. Das Ziel der Geiselnehmer, dass der Tschetschenienkrieg beendet werden sollte, ist allenfalls noch "nachvollziehbar", wie es der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion Gernot Erler formuliert. Ansonsten aber keine weitere Betrachtung wert. Die gewählten Mittel in Moskau seien "unter keinen Umständen" legitim. Solch deutliche Worte über die Mittel, die in Tschetschenien von beiden Seiten zu Lasten der Zivilbevölkerung angewandt werden, finden sich nicht mehr. Denn die Umstände sind jetzt andere.

Der Außenminister erklärte noch am 28. Januar 2000 vor dem Deutschen Bundestag: "So sehr wir das Recht Russlands betonen, ja sogar seine Pflicht, seine Grenzen zu verteidigen, weil niemand ein Interesse an einem sich vielleicht auch nur partiell auflösenden Russland haben kann, so sehr betonen wir aber auch, dass der Kampf gegen Terrorismus, den wir bejahen, mit verhältnismäßigen, rechtsstaatlichen Mitteln geführt werden muss. Der Krieg gegen ein ganzes Volk ist kein verhältnismäßiges Mittel im Kampf gegen Terrorismus."

Doch nun wird alles der Terrordefinition untergeordnet. Putin nutzte den 11. September, um den Krieg im Kaukasus in den "Krieg gegen den Terror" zu integrieren und umzudefinieren. Auf der anderen Seite haben es Extremisten geschafft, die Menschen in Tschetschenien zu radikalisieren und ihre eigenen Ziele aufzuzwingen - und damit wiederum den russischen Militärs in die Hände zu spielen. Russische Soldaten "säubern" Dörfer. Terroristen massakrieren auch westliche humanitäre Helfer.

Eine Entwicklung, die Fischer einst noch vorhersah, jetzt aber nicht mehr erwähnt. Er sagte im Januar 2000: "Wir kritisieren auch das Vorgehen Russlands in Tschetschenien und die humanitäre und politische Katastrophe, die der dortige Krieg verursacht hat; denn es besteht in der Tat die Gefahr, dass Russland das Gegenteil von dem erreicht, was es will: Mit der Parole 'Vernichtung der Terroristen' wird die Grundlage für eine massenhafte Unterstützung der Terroristen geschaffen."

Das Drama in Moskau wird von Kamerateams aus aller Welt beobachtet. In Tschetschenien bekommen Journalisten keine Arbeitserlaubnis.

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