
S.P.O.N. - Der Schwarze Kanal Shitstorm-Inflation

Wann muss man einen Protest ernst nehmen? Wenn sich 300 Demonstranten trotz Kälte und Regen an ein Gleis ketten, um einen Castor-Transport zu verhindern? Wenn 13.256 Menschen in Bayern finden, dass man in Schulbussen nie mehr zum Stehen gezwungen sein sollte? Oder wenn 231.379 Leute den ZDF-Moderator Lanz für ein solches Ekel halten, dass sie ihn vom Bildschirm verbannen wollen?
Zu den Ungerechtigkeiten der Welt gehört der Umstand, dass einige mehr zu sagen haben als andere. Ein Kanzler hat mehr zu sagen als ein Minister, ein Professor mehr als seine Studenten, und wer über einen Platz in einer Zeitung verfügt, kann sich eher Gehör verschaffen als Leute, die das nicht tun. Das ist für alle, die von einer Gesellschaft der Gleichen träumen, schwer erträglich.
Hinzu kommen die Tücken der repräsentativen Demokratie. Um politisch Einfluss zu nehmen, ist es in der Regel nötig, eine ausreichende Zahl von Menschen hinter sich zu versammeln, nur so lassen sich konkurrierende Vorstellungen ausstechen. Damit haben allerdings alle Minderheitenanliegen zunächst einen schlechten Stand - für Akteure, die sich bei der Mehrheitsgewinnung schwertun, traditionell ein Riesenärgernis.
Eine Möglichkeit, diesen strukturellen Nachteil auszugleichen, ist seit jeher die Aufwertung des Protests zu einer ursprünglicheren Form der Demokratie. Was sich auf der Straße an Unmut Bahn bricht, gilt dabei als Stimme des Bürgers, der im erstarrten Politikbetrieb keine Vertretung mehr findet. Heftigkeit und Lautstärke des Engagements ersetzen, was an Beteiligung fehlt.
Nie war Protest so einfach
Der Netzprotest führt alle Elemente der Widerstandskultur zusammen, angefangen mit der Romantisierung der Straße, und ergänzt sie um neue Formen der Mobilisierung. Die Online-Petition ist nicht nur schneller als der klassische Demonstrationsaufruf; sie verfügt zudem über den unbestreitbaren Vorteil, dass niemand mehr bei Wind und Wetter auf die Straße muss. Man muss noch nicht mal Name und Adresse nennen. Nie war Protest so einfach.
Wer Einwände erhebt oder sich gar darüber lustig macht, zeigt nur, dass er nichts verstanden hat und nichts verstehen will. Kritik entlarvt sich als der verzweifelte Versuch, die eigenen Privilegien über die Runden zu retten: Statt sich für das Neue aufgeschlossen zu zeigen, verteidigen die Hüter der bestehenden Ordnung die Deutungshoheit. Oder wie es Stefan Niggemeier in einer "Kritik der Kritik an der Lanz-Petition" am Montag schrieb: "Die Art, wie eine ganze Reihe professioneller Medien über die Petition berichten, zeigt, dass sie ein grundsätzliches und nachhaltiges Problem damit haben, dass ihnen das Kritik- und das Aufmerksamkeits-Monopol abhanden gekommen sind."
Aus jedem lauen Lüftchen wird eine Bewegung
Wie alle revolutionären Bewegungen nimmt auch der Netzprotest für sich in Anspruch, Aufbruch in eine neue Zeit zu sein. Der Avantgarde-Gedanke veredelt noch den kümmerlichsten Beitrag zum Fanal, vorausgesetzt natürlich, dass man die Codes beherrscht. Es ist einfach: Schmeißt jemand im angetrunkenen Zustand die Schaufenster der Sparkasse ein, hält man ihn für einen bemitleidenswerten Schwachkopf, der sein Leben nicht im Griff hat. Trägt er dabei einen schwarzen Kapuzenpullover und zitiert aus dem Linksmanifest "Der kommende Aufstand", ist er ein junger Heißsporn, der für eine bessere Welt eintritt.
Auch die Vertreter des Netzprotests können nicht der Versuchung widerstehen, die Zahl der Anhänger größer zu machen, als sie ist. Sie folgen dabei dem gleichen Reflex, der die Leute vom ADAC dazu trieb, bei ihren Umfragen an die Zahl der Teilnehmer eine weitere Ziffer zu hängen. So wird aus jedem lauen Lüftchen gleich eine Netzbewegung und aus der Aufregung von zwölf Leuten, die sich gar nicht mehr einkriegen können, was jemand anderes gesagt hat, ein Shitstorm.
Ole Reißmann aus dem Netzwelt-Ressort von SPIEGEL ONLINE hat anlässlich der Bundestagswahl ausgerechnet, was es eigentlich heißt, wenn sich inzwischen selbst Institutionen wie ARD und ZDF ständig auf die "Stimmung im Netz" beziehen. 173.000 Tweets hatte es zum TV-Duell gegeben, auf den ersten Blick eine beeindruckende Zahl, die auch von den Twitter-Leuten sofort stolz gemeldet wurde.
Was die Redaktionen für die "Stimmung im Netz" halten
"Nur mal angenommen, ein paar eifrige Nutzer haben das #tvduell kommentiert und alle paar Minuten einen Tweet geschrieben. Vielleicht 25 in 90 Minuten. Dann reichen schon 7000 Twitter-Nutzer aus, um auf 173.000 zu kommen. Das wären dann 0,01 Prozent der Wahlberechtigten", schrieb Reißmann . Es waren tatsächlich wohl eher 0,058 Prozent der Wahlberechtigten, wie die Analysefirma tame.it anschließend schrieb. Aber auch das ist keine Zahl, die es rechtfertigen würde, minutenlang aus Twitter-Einträgen vorzulesen.
In Wahrheit spiegelt die "Stimmung im Netz" vor allem das, was Redaktionen dafür halten. Solange Journalisten davon leben, dass sie für ihre Thesen Referenzobjekte brauchen, die die Thesen dann bestätigen, muss man sich unter den Netzaktivisten keine Sorgen machen. "Es sind die Medien, die sie als Volksabstimmung behandeln und die Unterstützerzahlen als Sensation und ihr damit überhaupt erst die unangemessene Bedeutung geben, über die sie sich dann hinterher beklagen", schreibt Niggemeier in seiner Verteidigung des Online-Petitionswesens.
Mit dem Einwand hat er zweifellos recht. Er bestätigt damit allerdings, dass es ohne die etablierten Kräfte, die man gerne überflüssig machen würde, auch in der Netzwelt nicht geht. Ohne die Aufmerksamkeit der großen Medien würden die meisten Petitionen sang- und klanglos verschwinden.
