Jakob Augstein

S.P.O.N. - Im Zweifel links Wir brauchen eine Leitkultur

Neues Deutschland: So viel Freude über Fremde war noch nie. Lieben wir plötzlich das Bunte - oder wollen wir schon wieder vor uns selbst fliehen? Das wird nicht funktionieren. Eine Frage wird immer wichtiger: Was ist eigentlich deutsch?
Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof: Was ist eigentlich deutsch?

Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof: Was ist eigentlich deutsch?

Foto: Nicolas Armer / dpa

Das Grauen der Bilder. Die in der Zeitung: Ein kleiner Junge, tot am Strand. Die im Kopf: 71 Menschen im Todeskampf in einem Lastwagen. Das Leid der Welt hat Deutschland erreicht. Und die Deutschen handeln, ganz von selbst. In München musste die Polizei die Leute fortschicken, die mit Geschenken in den Händen die Flüchtlinge am Hauptbahnhof willkommen heißen wollten: Es waren zu viele. Wenn Deutsche freundlich sind, dann richtig.

Es ist das eine, Leben zu retten und durstigen Menschen Wasser zu bringen. Es ist etwas anderes, Millionen von Migranten in eine Industriegesellschaft zu integrieren. Es werden auf Dauer Millionen sein. Allein in diesem Jahr kommen vermutlich bis zu 800.000 Flüchtlinge nach Deutschland. Über den Schrecken der Bilder und die Freude an der Freundlichkeit hinaus lohnt sich der Gedanke: Wie wird das gehen? Es ist nicht leicht, ein Bundesbürger zu sein. Bekanntlich gelingt das längst nicht allen Deutschen so gut - siehe Sachsen.

Die Kanzlerin macht Mut. "Wir schaffen das", hat Angela Merkel gesagt, "und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden." Das ist ungewohnt. Merkel als Bob der Baumeister. Mit hochgekrempelten Ärmeln für ein neues Deutschland. Darum geht es. Unsere Identität steht auf dem Spiel.

Vielleicht ist die Freude über die Neuankömmlinge deshalb so groß, weil sich auf unerwartete Weise damit für die Deutschen eine Hoffnung verbindet: anders sein. Weniger deutsch. Alt und müde und neurotisch ist Deutschland. Jetzt ist es, als wollten sich die Deutschen von sich selbst befreien. Wir helfen den Flüchtlingen. Und die Flüchtlinge helfen uns. Der leicht abgewandelte Slogan einer Firma für Hustenbonbons gibt die Parole vor: "Sind sie zu bunt, bist du zu braun."

Der Weg ist weit

Merkel sagt: "Deutsche Gründlichkeit ist super, aber es wird jetzt deutsche Flexibilität gebraucht". Dann gelangte sie in wenigen Worten vom Elend der Flüchtlinge zu den Normen der Deutschen: "Dann kommen wir zu dem Ergebnis, dass es vielleicht besser ist, die Übergangsbestimmung zu schaffen, dass der Brandschutz, die Geländerhöhe, die Wärmedämmung und vieles andere ..." Man sieht: Der Weg ist weit.

Falls es die Hoffnung gibt, die Ausländer würden uns von uns selbst erlösen - das wird nicht funktionieren. Im Gegenteil: Je mehr Neubürger kommen, desto wichtiger wird die Frage werden: Was ist eigentlich deutsch?

"Unsere Leitkultur ist das Grundgesetz", hat Cem Özdemir einmal gesagt. Aber dieser intellektuelle Patriotismus genügt nicht für die neue Zeit. Das Grundgesetz lernt sich nicht ohne weiteres auswendig und - wie ein deutscher Innenminister es einmal formulierte - man kann auch nicht den ganzen Tag damit unter dem Arm herumlaufen. Auch der Einbürgerungstest mit seinen 300 Fragen - was man unter dem Wort "Opposition" versteht, ob Elsass-Lothringen zu Deutschland gehört und wie man sich als Deutscher verhält, wenn der neue Fernseher kaputt ist oder der Steuerbescheid nicht stimmt - taugt nicht wirklich als Leitfaden einer neuen Gemeinsamkeit.

Denn wie verhält sich eine in Zukunft wirklich multikulturelle Gesellschaft, wenn sie an den Punkt des "impossible-à-supporter" gelangt? Ein Ausdruck des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan, den der Philosoph Slavoj Zizek neulich im Gespräch mit dem SPIEGEL  aufgriff. Er bezeichnet die Dinge, die unmöglich zu ertragen sind. Und da gibt es, je nach Perspektive, zwischen Dortmund und Damaskus einiges. Toleranz, sagt Zizek, sei dafür keine Lösung: "Deshalb sage ich als Linker: Wir müssen für unsere eigene Leitkultur kämpfen."

Das schlimme L-Wort. Einst wurde darüber heftig gestritten. Nun stellt sich heraus: Wenn es eine solche Leitkultur nicht gibt, dann ist es höchste Zeit, sie zu erfinden. Ein ideeller One-size-fits-all-Anzug, in den jeder Einwanderer nach kurzer Eingewöhnungszeit schlüpfen kann. Wie sonst soll eine Gesellschaft zurechtkommen, in der "Multikulti" kein Gegenstand der Debatte ist - sondern eine Realität? Eine sonderbare Dialektik der Geschichte: Am Ende wird Deutschland beides haben, Leitkultur und Multikulturalität.

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