
Flüchtlingsdebatte Leben und sterben lassen


Flüchtling im Mittelmeer kurz vor der Rettung durch das deutsche Boot "Sea-Watch"
Foto: ALESSIO PADUANO/ AFPEs ist Sommer. Es ist sonnig. Zeit, ans Meer zu fahren. Wir liegen am Strand. Die See ist ruhig. Wir gehen ins Wasser. Dann kommen wir wieder heraus. Wir verbringen unsere Ferien am Meer. Andere verlieren dort ihr Leben. Weil sie keinen anderen Weg sehen, stechen sie in See und kommen darin um. Das wissen wir. Kümmert es uns? Was tun wir dagegen? Tun wir genug? Was ist genug?
Es gibt inzwischen Menschen - nicht wenige - die halten schon solche Fragen für eine Zumutung. Zu viel Moral, sagen sie dann. Die halten sich solche Zumutungen mit dem Argument vom Leib, dass in den Fragen der Migration und der globalen Gerechtigkeit die Maßstäbe des ethischen Handelns zu oft falsch gebraucht werden oder überhaupt gebraucht werden, wo sie angeblich nicht taugen. Dafür gibt es sogar ein tolles Fachwort: "Hypermoral".
In ihrer jüngsten Ausgabe räumte die "Zeit" dem hypermoralischen Argument viel Platz ein. Da konnte die Autorin Mariam Lau den Leuten, die sich aufgemacht haben, im Mittelmeer Leben zu retten, den Vorwurf machen: "Ihr Verständnis von Menschenrechten ist absolut kompromisslos." Es ging bei dem Artikel um die Frage, ob die Privatrettung von Menschen aus dem Meer "legitim" sei . Frau Lau schrieb, dass die privaten Retter das Problem verschärften, das sie lösen wollten: die Retter seien längst "Teil des Geschäftsmodells der Schlepper".
Um diese These zu überprüfen, müsste die private Rettung eingestellt werden. In dem Maße, in dem öffentliche Schiffe nicht einspringen, erhöht sich die Zahl der nicht Geretteten. Das ist ein anderes Wort für Tote. Und dann? Legen keine weiteren Schlauchboote ab, weil die Flüchtlinge nicht mehr auf Rettung hoffen? Müssen erst mehr Menschen sterben, damit andere leben?
Im Video: Flüchtlingsretter im Mittelmeer
Unsere öffentlichen Debatten sind schwierig geworden. Dem einen erscheint selbstverständlich, was dem anderen völlig abwegig vorkommt. Das Reden - und Zuhören - fällt zunehmend schwer. Aber hier hält man doch entsetzt inne: die "Zeit", Zentralorgan des deutschen Bildungsbürgertums, gibt den Gedanken frei, dass es Umstände geben kann, unter denen Lebensrettung nicht mehr "legitim" ist. Es handelt sich nicht um ein Missverständnis. Das machte die Redaktion deutlich, als sie unter der Überschrift "Gibt es falsche Fragen" in einem online nachgeschobenen Erklärstück darauf beharrte: "Diese Frage muss gestellt werden dürfen."
Dazu lässt sich sagen: Nein, darf sie nicht. Und: Ja, es gibt falsche Fragen. Eine Frage ist dann "falsch", wenn sie ihre Antwort in sich trägt ("Darf ich Angela Merkel töten?"). Und sie wird noch "falscher", wenn ihre reine Existenz die Selbstverständlichkeit der Antwort in Frage stellt. Wer ernsthaft darüber debattiert, ob wir alles tun müssen, um Menschen auf dem Meer zu retten, hält die Antwort "Nein" für möglich. Das lobt sich zwar selbst als "Debattenkultur" - läuft aber auf ein AfD-mäßiges "Man wird ja noch fragen dürfen " hinaus. Ja, was? Ob man Schwarze ersaufen lassen darf?
Wenn wir den Tod im Mittelmeer verhindern können, müssen wir ihn verhindern
Die Migration ist keine einfache Sache. Wo sollen die Flüchtlinge hin? Wer zahlt für sie? Wie viele werden noch kommen? Was können wir tun, die Wanderung zu steuern oder zu unterbinden? Welche Pflicht haben wir, die Fluchtursachen zu bekämpfen? Welche Verantwortung tragen wir?
Wichtige Fragen - die aber im Angesicht des Todes im Mittelmeer verstummen müssen. Das Mittelmeer hieß im Römischen Reich mare nostrum, unser Meer, das Meer der Europäer. Wir sind nicht für jedes Leid der Welt zuständig. Für das Leid in unserem Meer sind wir zuständig. Wenn wir den Tod im Mittelmeer verhindern können, müssen wir ihn verhindern. Wer das für moralischen Totalitarismus hält, hat aus Auschwitz nichts gelernt.
Auschwitz? Darf das Wort in diesem Zusammenhang genannt werden? Oder ist das schon die "Selbstüberhöhung", von der die "Zeit"-Autorin spricht, die jene Retter verspottet, die "sich unerschrocken mit den Fluchthelfern der DDR oder gar mit jenen, die im Zweiten Weltkrieg Juden gerettet haben" verglichen. Vor einer solchen "moralischen Selbstüberschätzung" hat übrigens auch schon der Historiker Heinrich August Winkler im Zusammenhang mit unserer Flüchtlingskrise gewarnt, vor einer "deutschen Sondermoral".
Aber wer sich dagegen wehrt, dass Auschwitz dergestalt "instrumentalisiert" wird, irrt. Geschichte wird immer "instrumentalisiert". Es gibt kein reines, zweckfreies Gedenken. Auschwitz muss geradezu als Ermahnung instrumentalisiert werden, sich jeder Politik entgegenzustellen, die Menschen als Masse behandelt und nicht als Individuen. Mirjam Zadoff - die als Direktorin des NS-Dokumentationszentrums in München keinen Zweifel an der Einzigartigkeit der deutschen Verbrechen lässt - hat gesagt: "Ich bin sicher, dass der Blick zurück eines lehrt: Wenn wir Flüchtlinge nicht mehr als Menschen betrachten, sondern nur mehr als Bedrohung, zahlen wir einen hohen Preis und büßen unsere Menschlichkeit ein."
Aber wir sind inzwischen soweit, dass Amoralität als Realismus durchgeht. Es fällt auf, dass vor allem jene den falschen Gebrauch der Moral beklagen, die einer unmoralischen Politik das Wort reden. Wer Liebe, Hilfsbereitschaft und Friedlichkeit gegen Autorität, Interesse und Sachzwang einwechseln will, beweist, in welchem Umfang die Migrationskrise zur Krise unserer Moral geworden ist.